Aus dem Familienalbum: Der Autor mit seinem Kindermädchen Irmi in Tirol
Vieles wird heute über das erste Jahrzehnt nach dem grauenvollen Zweiten Weltkrieg erzählt, was ich berichtigen muss. Ich bin froh durch diesen Beitrag Gelegenheit zu finden. Mein Bestreben ist, eine Sache von mehreren Seiten her zu betrachten. Jede Zeit hat ihre Probleme. Sie haben die Möglichkeit die verschiedenen Schwierigkeiten damals und heute nebeneinander zu stellen.
von Lothar Schweitzer
Ich kann mich auch noch an die Lebensmittelknappheit nach dem Krieg erinnern. Die Familien bekamen je nach Größe und Schwere der Arbeit der Berufstätigen Lebensmittelmarken zugeteilt. Ich sehe meine Mutter vor mir, wie sie die Marken gegen Nahrungsmittel eintauschte, wenn ich sie zum Greißler oder ins Milchgeschäft beim Einkaufen begleitete. Übrigens gab es diese Marktwirtschaft auch im alliierten Siegerstaat Großbritannien.
Ein ehemaliger Direktor eines namhaften Hotels schreibt in seinen Memoiren, als er als junger Kellner begann, bekam er die Aufgabe auf den Servierwagen mit den Vorspeisen aufzupassen. Er machte bald die Erfahrung, dass dies wörtlich gemeint war. Er hatte seine Not, weil die Kollegen gern etwas abzuzweigen versuchten. Die Greißler hatten auch Verbindungen zu Schwarzhändlern, so genannten Schleichhändlern.
Deswegen blieb man diesen Greißlern, weil sie einem so oft aus der Not geholfen haben, lange weiter treu, auch wenn mit der Zeit nach dem Ende der Rationierungen modernere Lebensmittelfachgeschäfte eröffneten. Da geschah es immer häufiger, dass man alte, ja sogar übelriechende Wurst- und Fleischwaren erhielt. Und wenn man dann seinen Kauf einschränkte, kam die Bemerkung: „Ist das alles?“ Eine solche Art mit Kunden umzugehen ist der Tod der kleinen Geschäfte.
Ein gängiger Ausdruck zu der Zeit war „Hamstern“. Etwas Geld war da, aber keine Ware. So leistete man sich mit dem Schlafwagen für eine Woche in das weit westlich gelegene Tirol zu fahren, in einem Gasthaus Quartier zu nehmen und zu den Bauern hausieren zu gehen, ob sie einem Lebensmittel verkaufen. Ich erinnre mich gut, wie ich im Schlafwagenabteil allein gelassen wurde, weil meine Mutter den Schlafwagenschaffner suchte, ich zu weinen anfing und eine Gruppe junger Männer hereinkam und mich tröstete.
Es waren Burschen von der Schweizer Fußballmannschaft, die in Wien ein Match gespielt hatten. Im Speisewagen beim Abendessen, dort gab es genug zum Essen – ohne Marken -, schenkten sie mir ganz neue Dinge zum Essen. An die Datteln, etwas total Unbekanntes, kann ich mich bis heute erinnern.
Der Weg zum Speisewagen war aufregend. Zwischen den Waggons war keine Abdeckung, man sah links und rechts frei in die vorbeirasende Landschaft. Mir schwindelte und meine Mutter musste mich immer am Arm nehmen. Schön war, als mein allerliebstes Kindermädchen Irmi nachkam.
Manchmal kaufte man Ware, die man eigentlich nicht unbedingt brauchte, weil man Angst vor einer wiederkehrenden Inflation wie in der Zwischenkriegszeit hatte. Viel später entdeckte ich im Bücherkasten einen minderwertigen, fehlerhaften Opernführer. Als zu den Salzburger Festspielen 1959 Dietrich Fischer-Dieskau den Mandryka in „Arabella“ sang, dachte ich mir, dieser hohe Bariton singt also doch auch Tenorpartien. Denn der Mandryka war in dem Führer als Tenor angegeben. Der Riese Fasolt übrigens als Hoher Sopran.
Vieles wird heute der neuen Generation verzerrt erzählt. Der Schauspieler Fritz Wepper machte einmal bei einem Interview die saloppe Bemerkung: „Da gab es ja noch nichts.“ Er bekam dann wegen seiner so dahin gesagten Bemerkung einen derartigen Lachkrampf, dass das Interview nach mehrmaligen Versuchen des Fortsetzens abgebrochen werden musste.
Nun, die Lebensmittelknappheit und die eben beschriebenen Probleme mit der Besatzung waren kein Honiglecken, aber man war froh, dass der Krieg zu Ende war und die Väter nicht mehr an die Front mussten. Man sah natürlich auf Schritt und Tritt Kriegsinvalide und einige meiner Freunde hatten keinen Vater mehr oder mussten sehnsüchtig auf seine verzögerte Heimkehr aus der Kriegsgefangenschaft warten. Manches Mal war die Enttäuschung groß, wenn der Vater verstört und fremd geworden heimkehrte. Deswegen beeindruckte und erschütterte mich die letzte Fidelio-Inszenierung bei den Salzburger Festspielen von Claus Guth, wenn inmitten des jubelnden Chors Florestan zusammenbricht.
Es wird heute der Jugend erzählt, man habe noch Jahrzehnte nach dem Krieg über die nationalsozialistische Zeit betreten geschwiegen. Da muss ich widersprechen. Die Zeitschrift „Die Bunte“ brachte in den Fünfzigerjahren Serien über Goebbels und Himmler.
Eine parlamentarische Anfrage kritisierte 1961, dass in den Schulen ein zu schockierender Dokumentationsfilm über die Konzentrationslager gezeigt wurde. Der Geschichtsunterricht in der Schule hatte immer das Problem mit dem vorgeschriebenen Stoff bis zum Ende des Schuljahrs nicht fertig zu werden. Das betraf jedes Jahr eine Epoche der Geschichte. Dafür erfuhren wir immer wieder in anderen Fächern (Altgriechisch, Deutsch, Bildnerische Erziehung) abweichend vom Lehrstoff über schlechte Erfahrungen dieser Lehrer in der Zeit. Die Medien stellen die Geschichte so dar, als hätte das wirtschaftliche Goldene Zeitalter erst zwei Jahrzehnte vor der Jahrhundertwende begonnen. Ich hörte als Jugendlicher die Erwachsenen Anfang der Sechzigerjahre sagen: „Wir können zufrieden sein. Es kann nur wieder schlechter werden.“
Im Geschichtsunterricht wurde gelehrt: Durch die Hitler-Diktatur wurden die Christdemokratische (in Österreich jetzt Volkspartei genannt) und die Sozialistische (später erst Sozialdemokratische) Partei geläutert und haben friedlich zueinander gefunden. Na ja, die Wahlplakate hatten eine andere Sprache. Da waren die böse schwarze oder die böse rote Katze in räuberischer Pose zu sehen.
Meine Mutter interessierte sich arglos bei meiner Schuleinschreibung für gemischte Klassen mit Buben und Mädchen und wurde von der Direktorin angefahren: „So etwas gibt es in dieser Schule nicht!“ Sie ist dann zu meinem Lehrer gegangen und hat ihn gewarnt, da gäbe es unter den Eltern eine Mords-Rote. Und das bei einer Apothekerfamilie, die eine Verstaatlichung des Gesundheitsdienstes bei einer sozialistischen Mehrheit im Parlament fürchtete wie die Pest!
Für den Schluss habe ich mir etwas Kurioses aufgehoben. Schon von frühester Kindheit an scheinen wir administratives Denken (Bürokratie ist ein zu hässliches Wort) gleichsam mit der Muttermilch aufgesogen zu haben.
Im Alter von acht Jahren spielten wir in der Volksschule (Grundschule) „Verfolgen“. Nach Unterrichtsschluss gingen wir nicht sofort heim, sondern verfolgten einen Mitschüler auf seinem Heimweg. Der fühlte sich fast bedroht, wenn ihm gleich eine ganze Gruppe nachging. Da kamen wir auf die Idee, um jemanden zu verfolgen ist ein Verfolgungsschein notwendig in dem der zu Verfolgende einzutragen ist. Ein Mitschüler übernahm die Aufgabe, Listen zu führen. Pro Woche durften wir in den Verfolgungsschein höchstens zwei Personen eintragen lassen, außer diejenigen waren bereits in einem anderen Schein eingetragen und deshalb vergeben. Wurde jetzt ein Schüler verfolgt, konnte er von dem Verfolger den Ausweis verlangen, ob er diese Woche rechtmäßig verfolgt wurde. In meinem Verfolgungsschein waren häufig weibliche Namen aus der Mädchenklasse.
Lothar Schweitzer, 10. April 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
„Meine ersten musikalischen Erfahrungen“ erscheint, Donnerstag, 11. April 2024, bei klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Serie Neu: Wie ich als Kind die Nachkriegszeit erlebte Teil 1 klassik-begeistert.de, 9. April 2024