Foto: Schleswig-Holstein Musik Festival, Dom zu Lübeck, 13. August 2022, © Dr. Ströbl
Schleswig-Holstein Musik Festival
Dom zu Lübeck, 13. August 2022
Iwona Sobotka, Sopran
Gerhild Romberger, Alt
Benjamin Appl, Bariton
Flensburger Bach-Chor
Symphonischer Chor Hamburg
Elbipolis Barockorchester
Matthias Janz, Dirigent
Johannes Brahms: Schicksalslied op. 54 für Chor und Orchester
Rhapsodie für Alt, Männerchor und Orchester op. 53
Pēteris Vasks: Pater Noster für Chor und Streichorchester
Johannes Brahms: „Nänie“ für Chor und Orchester op. 82
Gabriel Fauré: Requiem op. 48
von Dr. Andreas Ströbl
Inhaltlich hätte das Konzert am 13. August im Dom zu Lübeck gut in den November gepasst, dem Monat, in dem traditionell der Toten gedacht wird und die Kirchenmusik sich dem Abschiednehmen, Erinnern und der Hoffnung auf die Auferstehung widmet.
Matthias Janz, der Symphonische Chor Hamburg, der Flensburger Bach-Chor, das Elbipolis Barockorchester und die drei Solisten hingegen verbreiteten in der fast ausverkauften Kirche mit ihrem charakteristischen Doppelchor (150 Frauen und Männer) reine Freude und Zuversicht. Das lag weniger an der Sommerparty-Stimmung auf dem Domhof, sondern vielmehr an der begeisterten und begeisternden Art, mit der der Kirchenmusiker Janz seine Musikerinnen und Musiker, vor allem die Chöre, in bewährter Weise mitreißt und väterlich-gütig seit Jahrzehnten zu Ensemble-Höchstleistungen bringt.
„Hyperions Schicksalslied“ aus Friedrich Hölderlins gleichnamigem Briefroman ist ein literarisches Kurz-Psychogramm des wohl sensibelsten, dünnhäutigsten Dichters deutscher Zunge in Kurzform, denn in diesem dreistrophigen Gedicht bildet sich seine Sehnsucht nach dem Höheren und Idealen ebenso ab wie seine innere Angreifbarkeit, ja Zerrüttung und melancholisch-ernste Grundstimmung, die letztlich in die völlige Abgeschiedenheit vom Weltgetriebe münden sollte. Brahms reißt die fatalistische Bilanz der leidenden Menschen, die „wie Wasser von Klippe zu Klippe geworfen, Jahr lang ins Ungewisse hinab“ schwinden und fallen, herum und trotz des letzten Wortes „hinab“ kleidet er die resignativen Worte in einen musikalischen Dur-Optimismus und gibt dem Gedicht so eine völlig andere innere Wendung.
Viele derer, die Hölderlin lieben, tun sich mit den meisten Vertonungen schwer, und davon gibt es reichlich. Neben Brahms waren es vor allem Reger, Hindemith, Orff, Henze, Britten, Maderna, Kurtág, Holliger, Rihm, Nono oder Zender, die sich von der oft rätselhaften, stets um den höchsten Ausdruck ringenden Sprache Hölderlins haben inspirieren lassen. In der Tat genügen hier eigentlich die Worte, in denen sich Schönheit und Wahrheit zu erhabenster Reinheit vereinen. Brahms Vertonung kommt da etwas bombastisch daher und schnell geraten Aufführungen dieses Chorliedes pathetisch und überladen. Die beiden Chöre allerdings sangen nicht nur wie mit einer Stimme phantastisch synchron, sondern auch völlig unprätentiös und mit aufrichtig-zurückgenommenem Gestus. Der kastenartige Westchor, in dem die Sängerinnen und Sänger standen, ließ nicht zu, dass sich der Klang nach den Seiten ausbreitete, sondern führte den fein artikulierten Gesang direkt in das Kirchenschiff.
Professor Janz achtet bekanntlich auf den Respekt jeder Note und jedes Wortes und so gaben vor allem die ganz bewusst scharf getrennten Silben in „von Klip-pe zu Klip-pe geworfen“ die Härte der gegen die Felsen schlagenden Bewegung unmissverständlich wieder. Waren die Blechbläser zu Beginn im Ansatz noch etwas unsicher, fingen sie sich später, um die dramatischen Aspekte gerade zum Anfang der dritten Strophe hervorzuheben.
Wer beim Namen Pēteris Vasks an eine moderne Adaption des „Vaterunser“ dachte, wurde eher zu einem spätromantischen gesungenen Gebet geführt, denn sein „Pater noster“ fügte sich musikalisch schmiegsam in das Programm ein. Manche im Publikum dürften bereits bei den ersten Tönen eine Nähe zum Fauré-Requiem, das den Abend beschließen sollte, empfunden haben. Die leicht italienisierende Wiedergabe der lateinischen Worte durch den Chor verhalf dem Stück bei allem sakralem Ernst zu einer gewissen Leichtigkeit. Janz dirigierte dieses schnörkellose, klingende Gebet eindringlich-beschwörend; die einsetzenden Stundenglocken des Doms klangen wie ein höherer Segen.
Für die erkrankte Sophie Harmsen war die Altistin Gerhild Romberger eingesprungen, die Brahms’ Alt-Rhapsodie mit ihrem geheimnisvollen Anfang voller glutvoller Wärme, wunderbarem Volumen und sehr gemessen eingesetztem Vibrato sang. Chor, Orchester und Solistin waren hervorragend ausgewogen – ein so großer Kirchenraum wie der Lübecker Dom verzeiht nichts und die Mitwirkenden haben mit erheblichen Klangübertragungs-Verzögerungen zu rechnen. Umso souveräner geriet die Darbietung dieses inhaltlich und musikalisch anspruchsvollen Stückes.
Die folgende „Nänie“ von Brahms griff als Adaption eines antiken Klagegesanges den Trauer-Gestus programmatisch auf; auch hier endet der Text mit dem Wort „hinab“. Aber wiederum hat Brahms die beschließende Düsternis gemieden und die vorige Zeile wiederholt und ans Ende gesetzt: „Auch ein Klaglied zu sein im Mund der Geliebten ist herrlich“ – diese Freude und Helligkeit überstrahlt die Schwere der Trauer. Dem entsprach die anmutige Wiedergabe von Schillers Gedicht durch den gemischten Chor mit erfreulich deutlicher Wiedergabe der Endkonsonanten; anders kann man dem Hall-Monster eines solchen Baues nicht begegnen.
In der Pause hätten die Veranstalter gerne einen zweiten Getränkestand aufstellen dürfen, denn nur die ersten in der Schlange erhielten Labung, die anderen mussten sie allein in der Musik suchen. Eigentlich wäre die Pause auch lange genug gewesen, denn die Instrumente mussten erst auf die beim Fauré-Requiem zentral wichtige Orgel umgestimmt werden.
Dieses Requiem ist vielleicht deshalb so anders als die großen Geschwister von Mozart, Brahms und Verdi, weil ihm eine wahrhaft leichte Sinnlichkeit innewohnt, die so wohl nur ein französischer Komponist ohne wirkliche Religiosität schaffen kann. Ihm war, wie Fauré selbst einmal erzählt hat, vorgeworfen worden, die Angst vor dem Tod nicht ausgedrückt zu haben; er habe „ein Wiegenlied des Todes“ geschrieben. Damit war der Komponist aber völlig einverstanden, denn so sah er den Tod: „eine glückliche Befreiung, ein Streben nach dem Glück in der Höhe, und nicht als eine schmerzhafte Erfahrung“.
Von Beginn an stark und durch die Orgel noch um eine klangliche Dimension erweitert, erklangen „Introitus und Kyrie“; Janz schmiss zuweilen fast mit dem Taktstock die Akzente in den Klangkörper und wies immer wieder mit dem Zeigefinger auf einzelne Instrumente bzw. deren Musikerinnen und Musiker. Im „Offertorium“ bewies der Bariton Benjamin Appl große stimmliche Präsenz und einen intensiven Blickkontakt zum Publikum. Bei sehr gutem Textverständnis (sein Latein mied meist eine leichtfüßige Italianità) gab er sowohl den eher psalmodierenden als auch den ariosen Passagen einen angemessenen, klaren Ausdruck.
Das „Sanctus“ gehört sicher zum Schönsten, was Fauré jemals geschaffen hat. Wie von Engelschören gesungen entführt dies Stück, mit dem der Komponist, der gerne mal im Ball-Frack an der Orgel saß oder auch in der Kirchenvorhalle rauchte, in eine himmlische Sinnlichkeit, die man bei ausgewiesen sakralen Tonsetzern oft vermisst. Alle Mitwirkenden vermittelten dementsprechend eine goldene, transluzide Harmonie.
Das setzte sich fort im „Pie Jesu“, gesungen von der Sopranistin Iwona Sobotka. Die kostete jeden Ton aus und ließ sich Zeit, um die klare Schönheit dieser Komposition zu würdigen. Wie der Bariton stellte sie sich uneitel in den Dienst des Ganzen; alles andere hatte sie auch bei ihrem glänzenden, volltönenden Vortrag nicht nötig. Nach dem „Agnus Dei“, wiederum mit Hingabe dirigiert und vom Chor sehr ausdrucksvoll gesungen, folgte das „Libera me“, eine wiederum vom Bariton vorgetragene glaubhafte Bitte um die Befreiung von den Schrecken des Todes. Das „Dies irae“ ist, verglichen mit anderen Requien, hier fast zahm, lässt aber doch ahnen, dass es immerhin um den Tag des Jüngsten Gerichts geht. Daran ließ auch Janz’ Dirigat mit seinen harten Taktstock-Stupsern keinen Zweifel.
Kenner des Lübecker Doms und ohnehin von sakraler Architektur wissen, dass sie die Kirche zu diesem Konzert nicht durch den südwestlichen Eingang, sondern durch das „Paradies“, die Vorhalle am nördlichen Seitenschiff mit den wundervoll restaurierten Bauskulpturen, betreten hatten. Klanglich erfolgte nun der Eintritt in den Garten Eden durch das Finalstück „In paradisum“ mit lieblichem Glanz und die durch ein steigendes Motiv vermittelte Erhebung in himmlische Höhen. Das beschließende “habeas requiem“ ist fern von jeder trocknen Grabinschrift und vermittelt die Vorfreude auf die Befreiung jeglicher leiblichen Last. Mit der sehr irdischen Freude über einen wunderschönen Konzertabend erfüllt, dankte das Publikum allen, die dazu beigetragen hatten, mit langanhaltendem und begeistertem Beifall.
Dr. Andreas Ströbl, 14. August 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Der Archäologe und Kunsthistoriker Dr. Andreas Ströbl (geboren 1964 in Hersbruck/Pegnitz) liebt seit seiner Kindheit das, was „Klassik“ genannt wird, sich aber von Striggio bis Saariaho erstreckt. Sein Gott heißt Gustav Mahler, aber er machte auch frühe Drogenerfahrungen mit Wagners Werk. Wenn er nicht gerade in Grüften und Mausoleen forscht, geht er mit seiner Frau Regina in die Oper oder Konzerte, wann und wo immer es möglich ist. Die beiden wohnen in Lübeck, aber ihre gemeinsame Arbeit und Musikleidenschaft führen sie mitunter an entlegene Ecken. Andreas Ströbl schreibt seit dem Frühjahr 2020 für „Klassik begeistert“.
Forschungsstelle Gruft
Arbeitsgemeinschaft Dr. Regina und Dr. Andreas Ströbl
Die Forschungsstelle Gruft hat es sich zur Aufgabe gemacht, neuzeitliche Gruftanlagen wissenschaftlich zu dokumentieren und interdisziplinär zu untersuchen. In Zusammenarbeit mit Restauratoren setzen wir uns dafür ein, die historischen Särge zu erhalten und die Würde der Begräbnisstätten wieder herzustellen.
SHMF, Brahms, Vasks, Fauré St. Michaelis, K 146, Hamburg, 12. August 2022
10 Fragen an den Dirigenten Professor Matthias Janz klassik-begeistert.de