Sir Simon Rattle. Foto: © Oliver Helbig
Kölner Philharmonie, 27.9.2021
Sir Simon Rattle, Dirigent
London Symphony Orchestra
Anton Bruckner – Scherzo. Bewegt – Trio. Nicht zu schnell, keinesfalls schleppend
Anton Bruckner – Volksfest – Revidiertes Finale der 1. Fassung der Sinfonie Nr. 4 Es-Dur WAB 104 (“Romantische”)
Anton Bruckner – Sinfonie Nr. 4 Es-Dur WAB 104 2. Fassung mit dem Finale von 1880 “Romantische”
von Daniel Janz
Es ist schon ein besonderes Programm, das die britischen Gäste an diesem Montag mitgebracht haben. Der gesamte Abend ist dem hochromantischen Komponisten Anton Bruckner gewidmet – genauer gesagt sogar nur einem seiner Werke. Was sich anhört wie ein Forschungsgegenstand für Spezialisten beweist sich gemessen an dem – für Corona-Standards – nahezu ausverkauften Saal aber als überaus anregend. Und dem Publikum kann hier auch Einiges geboten werden: Bruckner, der als Zeitgenosse von Richard Wagner lange Zeit im Schatten des großen Opernkomponisten stand, hinterließ häufig mehrere Fassungen zu seinen Sinfonien. So auch zur heute gespielten, vierten Sinfonie.
Den Beginn macht das Gastorchester aus London mit einem Trio, das in der ursprünglichen Fassung der Sinfonie einmal gestanden hat, jedoch mit der heute verbreiteten und bekannten 2. Fassung bis auf die Tonart nicht viel gemein hat. Ganz wie in der späteren Sinfoniefassung steht in diesem Part eine musikalische Jagdszene im Vordergrund. Angetrieben von solistischen Hornrufen steigert sich das Orchester ganz typisch für den brucknerschen Stil immer wieder zu dröhnend vollen Klangorgien, die dann wieder abebben. Eine Version, die es nicht oft zu hören gibt – vor Konzertbeginn sprach Sir Simon Rattle (66) sogar davon, mit dieser Version erst vor Kurzem die Londoner Uraufführung durchgeführt zu haben.
Dieser Satz hat auch durchaus seinen Reiz, steht aber zur später auskomponierten Alternative in keiner Konkurrenz. Zu unstrukturiert wirken die Überleitungen und Zwischenspiele, die Bruckner hier verwendete. Auch das melodische Moment wird hier auf die – grandios vorgetragenen – Hornsignale reduziert. Wäre es heute Abend nicht ein hervorragendes Orchester mit einem meisterhaften Dirigenten, dieser Satz wäre wohl nur etwas für ausgesprochene Liebhaber. Im unmittelbaren Vergleich kommt man jedenfalls schnell dahinter, wieso Bruckner diesen Part ersetzte.
Ähnliches lässt sich auch über die hier zunächst vorgetragene erste Fassung des Finales sagen. Diese – ebenfalls mit „Volksfest“ überschriebene – Version birgt für Bruckner-Kenner bereits das eine oder andere Wiedererkennungsmerkmal. So sind Hauptmelodie, zwischenzeitiges Tanzmotiv und auch einige der rohen Blechbläserpassagen identisch, werden aber durch ärmere Harmonien und andere Zwischenspiele kaschiert. Trotz Übereinstimmungen mit dem revidierten Finale wirkt diese Fassung daher karger und durch viele monomelodische Stellen auch loser zusammengesetzt. Zusätzlich baut das spätere, deutlich längere Finale gerade durch die Ergänzungen und Revisionen eine viel größere Spannung auf.
Der besondere Reiz dieser Aufführung liegt deshalb auch in der Gegenüberstellung der ersten Fassungen mit dem späteren Endergebnis. Ein Ansatz, der wegen seiner Spezifität je nach Orchester auch misslingen oder langweilen kann, an diesem Abend aber absolut gelungen ist. Nicht nur fällt beim direkten Vergleich im Konzertbetrieb der Entwicklungsprozess des Komponisten unmittelbar auf. Es zeigen sich vor allem auch im Herausstellen der Unterschiede die besondere Klasse des heutigen Gastorchesters, allen voran seines Dirigenten, der sie wirklich bis ins letzte Detail durch besonders klare Akzentuierung herausarbeitet.
So fallen bereits die Blechbläser, allen voran die nahezu durchgängig tadellose Horngruppe über den ganzen Abend auf. Egal ob in den ersten beiden gespielten Urfassungen oder im brausenden ersten, im trabenden dritten oder im feurigen vierten Satz der Sinfonie. Ob als Solo, im mehrstimmigen Satz oder im Orchestertutti – sie sind heute ein Garant für ein volles, goldenes Klangerlebnis und legen selbst bis zum Schluss alles in ihr Instrument. Ein Wunder, dass sie nach dieser Leistung nicht am Krückstock gehen! Dasselbe lässt sich auch über die Trompeten, Posaunen und Tuba sagen, die den ganzen Abend über vom tiefsten bis hin zum höchsten Ton regelrecht vor Kraft strotzen. Ein wahrhaft feierliches Spektakel!
Grandios fallen auch die Streicher auf, die zugedeckt vom Blechbläserchoral selbst die schwersten Läufe noch zu einer Klarheit herauskitzeln, die ihresgleichen sucht. Die Musiker und Instrumente wirken über weite Strecken hinweg, als wären sie ein- und derselbe Organismus. Einzig die Kontrabässe erzeugen ab und an durch wuchtiges Anspielen einen unschönen Klang, wenn ihnen die Bögen gegen die Instrumente schlagen. In Anbetracht der Körperlichkeit, die Bruckners Musik verlangt, mag das aber auch beabsichtigt sein. Das Publikum scheint sich daran jedenfalls nicht zu stören.
Von Bruckner unscheinbar notiert, aber am heutigen Abend besonders beim Herausarbeiten von Details überzeugen auch die Holzbläser. Flöte und Oboe können gerade im in sich gekehrten zweiten Satz durch sehr sensible Passagen glänzen und einer hervorragenden Leitung unter dem in Liverpool geborenen Dirigenten ist es zu verdanken, dass selbst das Fagott immer wieder herauszuhören ist – ein Kunststück, das bei anderen Aufführungen dieser Sinfonie oft nicht gelingt. Ehrenhafte Erwähnung soll hier auch die Pauke finden, die in den lauten Stellen guten Einsatz zeigt, hier aber besonders in leisen Passagen durch fast unmerkliche Wirbel eine Gänsehaut bescherende Spannung erzeugt.
Bei so wenigen Schwächen und durchgängig überzeugender Leistung ist es kein Wunder, dass das Publikum dieses Orchester am Ende mit minutenlangen, stehenden Ovationen bedenkt. In der Tat war das heute ein vollends gelungener Abend, begonnen beim Konzept, über die Qualität der Gäste bis hin zu den feinen Akzenten – so gut wie alles hat gestimmt. Diese Aufführung hat gezeigt, wie eine mehr als 100 Jahre alte Musik trotzdem modern und zeitgemäß erlebt werden kann. Eine Form, in der Bruckner gerne häufiger präsentiert werden könnte. Der große Dank für dieses Erlebnis gilt jedenfalls Sir Simon Rattle und dem London Symphony Orchestra. Kommen Sie gerne wieder! Es hat sich sehr gelohnt.
Daniel Janz, 28. September 2021,
für klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at