„Sprecht leise! Haltet Euch zurück!“ – Beethoven was perfectly right!

Social Distancing, Schutzmaßnahmen,  Leben in Zeiten der Krise (Teil 2)

Nach einem Jahr Pandemie – Kunst & Kultur sind noch immer in Geiselhaft der Politik (Teil 2)

von Dr. Holger Voigt,
Mediziner und Autor für klassik-begeistert.de

Die Kunst- & Kulturszene hat im letzten Jahr hervorragende, innovative und überzeugende Sicherheitskonzepte entwickelt. Sie alle haben ihre Bewährungsproben mit Bravour bestanden und gezeigt, dass es wirklich geht. Im September des letzten Jahres zur Saisoneröffnung verspürte ich tatsächlich einen Hauch von Hoffnung, dass auf diesem Weg weitergemacht werden könnte. Doch das Gegenteil war dann der Fall. Schon wieder fiel die Kultur durch das Raster und musste sich schmerzhaft ein weiteres Mal in Geiselhaft begeben.

Herausgeber Andreas Schmidt wird nun meine beiden Artikel aus dem Vorjahr („Sprecht leise – haltet Euch zurück“ und „Mühseliges Wellenreiten“) erneut publizieren, da man in ihnen nachlesen kann, dass alles schon lange Zeit bekannt war und schon damals zahlreiche praktische Lösungswege aufgezeigt wurden. Traurig wird man feststellen müssen, dass wir kaum vorangekommen sind. Die Kulturschaffenden sind wieder allein, und das darf einfach nicht sein.

Ludwig van Beethoven, Fidelio
Libretto: Joseph Ferdinand von Sonnleithner, Stefan von Breuning und Georg Friedrich Treischke

„Sprecht leise! Haltet Euch zurück!
O welche Lust, in freier Luft
Den Atem leicht zu heben!
Nur hier, nur hier ist Leben.
Sprecht leise, haltet Euch zurück!“

„Social Distancing“ beginnt im Kopf und damit mit dem Sprechen

Die COVID-19 (Coronavirus SARS-CoV-2)-Pandemie lässt gegenwärtig unser aller Leben in den Grundfesten erschüttern. Vielen Verantwortlichen, die noch Anfang Januar nahezu amüsiert auf China blickten und die dortigen Maßnahmen als heillos übertrieben ansahen und gebetsmühlenartig darauf hinwiesen, die „normale“ Grippe sei doch viel gefährlicher und tödlicher, ist mittlerweile ihre eigene Hybris im Hals stecken geblieben. „Gut aufgestellt“ waren wir sicher nie und Pandemiepläne für Grippe und SARS reichen eben nicht aus, wenn eine völlig neuartige Bedrohungslage aufkommt: Das Virus hält sich einfach nicht an Vorschriften und Regularien der Vergangenheit.

Glücklicherweise wurde der Weckruf nicht vollständig überhört, auch wenn der Einschlag schon erfolgt ist. Individualprävention ist das Gebot der Stunde. Nur sie schützt auch die Gesamtgesellschaft und damit unser aller Zusammenleben. Was Terroristen und feindlichen Mächten nie gelang, schaffte ein kleines Virus in wenigen Wochen und das auch noch ohne eigenen Aufwand.

Es fehlt gegenwärtig nicht an Empfehlungen zur Individualprävention. „Prävention“ bedeutet: eigenverantwortliche, durch Verstand (Vernunft) gesteuerte Kontrolle des eigenen Verhaltens.

Was also wird angeraten:

Händewaschen, mehrmals täglich, ausgiebig und mit Seife, mindestens 30 Sekunden. Insbesondere nach dem Heimkommen und vor jeder Nahrungsaufnahme. Jeder Außenbereich muss bis auf Weiteres als kontaminiert angesehen werden, deshalb muss gedanklich zwischen „draußen“ und „drinnen“ differenziert werden.

Im Kontakt zu anderen – der ohnehin auf ein Minimum zu reduzieren ist – muss auf eine körperliche Distanz von mindestens 2 m Abstand geachtet werden („Social Distancing“), und auch Umarmen und Händeschütteln ist ab sofort tabu.

Fast täglich sehen wir in den Medien, dass nicht einmal Politiker und medizinische Experten diese Regeln auf Anhieb umsetzen konnten. Noch heute (Stand 17. März 2020) sitzen der Präsident des Robert-Koch-Institutes, Prof. Lothar H. Wieler, und seine Pressereferentin noch immer nicht 2 m auseinander auf dem Podium. Aber – oh Wunder! – man hat nun endlich doch auch erkannt, dass die während einer Pressekonferenz herumgereichten Mikrofone als kontaminiert zu gelten haben und verzichtet nun endlich auch auf diese. Fest installierte Mikrofone werden aber noch immer mit den Fingern berührt und mit den Händen ausgerichtet, so als gälten alle Warnhinweise für Mikrofone nicht. Coronaviren aber bleiben an Oberflächen Minuten bis Stunden viral aktiv; es gibt sogar Untersuchungen, die einen Zeitraum von bis zu 9 Tagen ermittelt haben.

G. Kampf, D. Todt, S. Pfaender, E. Steinmann: Persistence of coronaviruses on inanimate surfaces and their inactivation with biocidal agents, Journal of Hospital Infection, https://doi.org/10.1016/j.jhin.2020.01.022

Gut zu wissen ist, dass simpler 70%iger Alkohol innerhalb von 1-3 Minuten zu einer Virusinaktivierung führt. Das könnten auch Mikrofone vertragen, ohne sofort auszufallen. Man könnte ja auch versuchen, sie mit einer schalldurchlässigen, desinfizierbaren Schutzhülle oder Einmalhülle zu überziehen; man muss es eben nur einmal versuchen. Auch die Journalisten selbst sind oft kein sichtbares Paradebeispiel für kognitiv angepasstes Sozialverhalten. Beim Kampf um die besten Bilder fallen dann oft alle Vorsätze in sich zusammen.

An dieser Stelle sei aber insbesondere auf zwei Aspekte der Eigenprävention hingewiesen, die meines Wissens nach noch nie in ihrer praktischen Bedeutung ausführlich thematisiert wurden:

Zum Ersten: Das „laute“ Sprechen.

Zum Zweiten: Das unkontrollierte „Gähnen“.

Das „laute Sprechen“, oft anekdotisch-simplifizierend durch ein vermeintlich humorvolles Attribut zur „feuchten Aussprache“ hochstilisiert, ist ein aus Virussicht ideales Szenario der eigenen Selbstpropagation.

„Lautes Sprechen“ findet nicht nur im Gespräch unter oder mit schwerhörigen Personen statt, sondern überall dort, wo andere Grundgeräusche übertönt werden müssen: in der Disco, auf einer Party, beim Militär, in einem voll besetzten Kindergarten, in einem großen, voll besetzten Restaurant mit angeregter Gesprächsatmosphäre bei lauter Hintergrundmusik, bei Sportveranstaltungen, im Zug oder Flugzeug.

Was passiert nun beim „lauten Sprechen“?

Beim „lauten Sprechen“ erzeugen die muskulären Strukturen des Brustkorbes eine hinreichend große Kraft, um ein in der Lunge befindliches Luftvolumen durch den geöffneten Mund nach außen zu befördern, wobei beim Durchtritt durch den Kehlkopf vermittels der dort befindlichen Steuerungsmuskeln der Stimmgebung die austretende Luftsäule in Schwingungsbewegungen phonetisiert wird: Es entsteht neben der austretenden Luft ein hörbarer Ton oder eine Tonfolge, die als „Sprechen“ oder „Sprache“ bezeichnet wird. Alle dabei beteiligten Räume – über Lunge, Bronchien, Luftröhre und Nasen-Rachenraum – sind mit einer schleimbildenden inneren Oberfläche überzogen, die unablässig Schleim und damit Sekret produziert. Dieser ist bei viralen Infekten als infektiös anzusehen.

Im Bereich der phonetischen Endstrecke – der Mundhöhle – treten zu diesem Sekret noch Speichelsekrete der sechs Speicheldrüsen hinzu, die paarweise links und rechts als Ohr-, Unterzungen- und Unterkieferspeicheldrüsen angelegt sind und ihr Sekret beim Sprechen in Form eines Aerosol-Nebels nach außen befördern. Auch diese Speichelsekrete sind im Infektionsfall hochgradig virenhaltig. Insbesondere der hintere Bereich der Mundhöhle, der eine breite Verbindung zum Nasenraum (inklusive Nasennebenhöhlen) aufweist und zusammen mit diesem als „Rachenraum“ bezeichnet wird, ist das eigentliche „Biotop“ des Coronavirus. Hier erfolgt in der ersten Phase der Infektion die Virus-Replikation, also die Vervielfältigung des viralen Materials. Von hier aus ist es für die Viren ein nur kurzer Weg über die Luftröhre, bis die Bronchien und damit die Lungen erreicht sind. Diese Etage ist diejenige, die über die Schwere des Krankheitsgeschehens entscheidet. Hier kommt es zur Lungenentzündung.

Wer sich auf einer anatomischen Skizze einmal die Speicheldrüsen ansieht, wird überrascht sein, wie groß diese tatsächlich sind. Im Falle der Infektionskrankheit „Mumps“ kann es zu monströsen Anschwellungen der Ohrspeicheldrüsen kommen, die deutlich machen, wie groß die Speicheldrüsen werden können, deren Existenz und Position wir im Alltag eigentlich gar nicht bewusst wahrnehmen. Eine große Drüse bedeutet aber zugleich auch eine große Gewebsmasse mit vielen Zellen, die alle ein Sekret (Speichel) produzieren – im Infektionsfall bis zum Rand gefüllt mit Viren. Ein Virus fühlt sich hier am Ziel aller Wünsche. Befällt ein Virus eine Zelle (Anhaftung = Infektion), zerstört es die Zellstrukturen (was man einen „zytotoxischen Effekt“ nennt) und bedient sich dabei freiwerdender Bausteine, um sich selbst zu reproduzieren. Erst wenn ausreichende Mengen neutralisierender Antikörper im Rahmen der Immunantwort des Körpers bereitgestellt werden, kommt dieser Prozess zum Erliegen.

Wer „laut spricht“, erhöht dabei die kinetische Energie der beim Sprechen austretenden Luftsäule, die mit unzähligen Sekrettröpfchen angereichert ist. Somit gelangen Aerosole durchaus auch in Bereiche jenseits von 2 Metern! Was nützt dann der Verzicht auf einen Händedruck, wenn Gesichter beim Gespräch einander so genähert werden, dass sie nicht einmal 20 cm voneinander entfernt sind (so erst kürzlich beobachtet bei Gesundheitsminister Jens Spahn). Es ist also darauf hinzuweisen:

Nicht nur Anhusten und Anniesen müssen unbedingt vermieden werden, sondern auch das direkte Gesicht-zu-Gesicht-Sprechen in kurzer Distanz und/oder eine erhöhte Lautstärke beim Sprechen.

Generell ist es gut, wenn man beim Sprechen den Gesprächspartner nicht direkt ansieht und vor allem auf eine sichere Distanz achtet. Wer leise spricht, wird weniger Viren verbreiten.

Auch das Singen ist anatomisch gesehen eine Form des Sprechens. Was dabei im Detail passiert, wurde eindrucksvoll in einem Video dargestellt, das die dabei beteiligten Vorgänge durch die Technik einer Real-Time-Kernspintomografie visualisiert.

„Singing in the MRI“

Ähnlich dem „lauten Sprechen“ ist auch das „unkontrollierte Gähnen“ eine reale und relevante Infektionsgefahr. Nicht nur, weil sich gähnende Menschen die Hand vor den Mund halten (um sie dann gleich wieder zum Händedruck zu verwenden), sondern auch, weil sich dabei im geöffneten Mund die beiden Unterzungenspeicheldrüsen nach oben recken und ihr Sekret (Speichel) strahlartig entleert. Das gleicht dann einem Strahl aus einer Wasserpistole, erfolgt aber „stereo“, also doppelseitig. Wer gähnt, sollte den Kopf also zum Boden neigen, um keine anderen Menschen zu infizieren. Gesprächspartner sollten sich rechtzeitig mit einem beherzten Sprung oder Wegbücken aus der Schusslinie bringen.

Abschließend noch eine persönliche Empfehlung:

Eine zwei Mal am Tag (morgens, abends) durchgeführte Nasenspülung (Nasendusche mit Spüllösung) reduziert in erheblichem Umfang die allfällige Schleimhautbesiedelung mit Schmutzpartikeln, Bakterien, Viren und Pollen. Dadurch werden Nasen- und Rachenschleimhaut gereinigt und befeuchtet. Seit ich diese etwa 2 Minuten dauernde Prozedur konsequent (wie Zähneputzen) durchführe – und das sind nun schon 7 Jahre! – habe ich keinen einzigen viralen Infekt gehabt und praktisch keinerlei Heuschnupfen-Beschwerden mehr. Wohlgemerkt: Es ist keine Therapie, sondern eine Prophylaxe!

Bitte schützen Sie sich und andere. Und bitte bleiben Sie gesund!

Dr. Holger Voigt, zuerst erschienen am 17. März 2020,
für klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Dr. Holger Voigt, Jahrgang 1949, lebt in Kaltenkirchen (Schleswig-Holstein) bei Hamburg und ist Arzt und Wissenschaftler auf dem Gebiet der Krebsforschung mit Schwerpunkt digitale Tumorwachstumssimulation. Seine Liebe zur klassischen Musik entstand in den frühen 70er Jahren. In den 80er Jahren begann er, seinem musikwissenschaftlichen Interesse zu folgen, indem er einzelnen Komponisten (Beethoven, Mahler, Verdi) historisch und geografisch nachreiste und vor Ort die Entstehungsbedingungen ihrer Werke studierte. Er ist Herausgeber mehrerer wissenschaftlicher Bücher und seit 2018 Autor bei klassik-begeistert.de.

 

 

 

 

https://klassik-begeistert.de/?p=19908

3 Gedanken zu „Social Distancing, Schutzmaßnahmen,
Leben in Zeiten der Krise (Teil 2)“

  1. Den Begriff „Social Distancing“ kritisiere ich damals wie heute scharf, impliziert er doch, dass wir unsere sozialen Kontakte einstellen sollen. Dabei geht es doch nicht darum, den Kontakt zu Freunden und Familie abzubrechen – wozu gibt es Telefon und Internet? Wir vereinsamen in dieser Pandemie sowieso schon viel zu sehr, das sollten wir nicht auch noch durch die Begriffswahl verstärkern. Nein, es geht nicht um eine soziale sondern um eine räumliche Distanz, um ein „Physical Distancing“ – dieser kleine aber essenzielle Unterschied kommt mir bisweilen in der Auseinandersetzung mit Corona viel zu kurz.

    Daniel Janz

    1. Lieber Herr Janz, ich stimme Ihnen völlig zu. Der Terminus „Social Distancing“ war auch für mich überraschend urplötzlich global zum Standardbegriff geworden, der bei der Verschlagwortung (key words) oft automatisch hinzugefügt wurde. „Physical distancing“ wäre auch immer viel geeigneter, ich hätte sogar „aereal distancing“ bevorzugt. Aber die Semantik hatte schon früh eine Eigendynamik bekommen, die nicht mehr aufzuhalten war. Bestes Beispiel: die „Krise“. Erzählte man Angehörigen von Verstorbenen, ihre Liebsten seien Opfer einer „Krise“, man würde ihnen erneut Schmerz zufügen. Das ist keine „Krise“, sondern eine fürchterliche Katastrophe! Words mater.

      Dr. Holger Voigt

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