von Peter Sommeregger
Der Oper „Der Evangelimann“ von Wilhelm Kienzl galt einer meiner ersten Opernbesuche in Wien. Als etwa 8-jähriger Volksschüler genoss ich die Aufführung an der Wiener Volksoper. Auch dieses Werk trug zu meiner Infizierung mit dem Virus Oper bei.
Inzwischen ist dieses Werk wie viele andere des Typus volkstümliche Oper von den Spielplänen so gut wie verschwunden. Dafür scheint mir aber nicht die jeweilige musikalische Qualität der Grund zu sein, vielmehr ist es wohl die mangelnde Eignung der volkstümlichen Sujets, die der heutigen Ästhetik des Musiktheaters entgegensteht. So verschwindet nach und nach die gesamte deutsche Spieloper Lortzings, Flotows und anderer in der Versenkung, nicht ohne Folgen für eine dadurch erschwerte Hinführung von Kindern und Jugendlichen zum großen Thema Oper.
Der im oberösterreichischen Waizenkirchen am 17. Januar 1857 geborene Sohn eines Rechtsanwaltes wuchs schließlich in Graz auf, wohin seine Familie bereits bald nach seiner Geburt übersiedelte. In seinem musikalischen Elternhaus wurde sein Talent gefördert, er erhielt Geigen- und Klavierunterricht. Ab 1874 studierte er in Wien Komposition und Musikästhetik. Dieses Studium setzte er in Prag, Leipzig und schließlich in Weimar bei Franz Liszt fort. In diesen Jahren besuchte er die Bayreuther Festspiele, die seine lebenslange Verehrung für Richard Wagner und dessen Werk begründete.
Nach seiner Promotion 1879 reiste er als Pianist und Dirigent durch Europa, Mitte der 1880er Jahre kehrte er nach Graz zurück und wurde dort Leiter des Steiermärkischen Musikvereins. 1886 heiratete er die Sängerin Pauline Hoke, die er in Bayreuth kennengelernt hatte. Um diese Zeit begann Kienzl nach Kammermusikwerken auch Opern zu schreiben. Erst sein drittes Bühnenwerk, „Der Evangelimann“, das 1895 seine Uraufführung in Berlin erlebte, wurde zum großen Erfolg und machte den Komponisten bekannt.
Die schlichte, aber gefühlvolle Geschichte eines unschuldig Verurteilten, der nach seiner Entlassung als Evangelimann, eine Art Laienprediger durch das Land zieht, machte das Werk schnell populär, die Arie „Selig sind, die Verfolgung leiden“ haben in der Folge sämtliche Tenöre in ihr Repertoire aufgenommen, die eingängige Melodie ist neben der Arie für Mezzosopran „Oh schöne Jugendtage“ auch heute noch häufig zu hören.
Mit seinen späteren Opern hatte Kienzl weniger Erfolg, lediglich der 1911 uraufgeführte „Kuhreigen“ erlebte zumindest einen Achtungserfolg. Lange Zeit wurde Kienzl als Epigone Richard Wagners gering geschätzt, aber trotz des unleugbaren Einflusses Wagners ist sein vielfältiges Werk durchaus eigenständig.
Nach dem Tod seiner Ehefrau Pauline heiratete Kienzl 1919 die Librettistin seiner späten Opern, Henny Bauer. Mit den neuen Strömungen der Musik konnte Kienzl wenig anfangen, und zog sich ab etwa 1926 mehr und mehr vom Komponieren zurück, in seinen späten Jahren erfuhr er noch eine Reihe von Ehrungen und Würdigungen, ehe er am 19. (nach anderen Quellen am 3.) Oktober 1941 in Wien verstarb. Die Stadt Wien widmete ihm ein Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof.
Wenn auch Kienzls Opern kaum mehr aufgeführt werden, verdient sein reichhaltiges Werk, speziell seine zahlreichen Liedkompositionen, doch nicht ganz in Vergessenheit zu geraten. Die Discographie seiner Werke ist allerdings überschaubar, die letzte komplette Einspielung des „Evangelimannes“ liegt auch bereits über vierzig Jahre zurück.
Peter Sommeregger, 17. Oktober 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Sommereggers Klassikwelt (c) erscheint jeden Mittwoch.
Der gebürtige Wiener Peter Sommeregger (Jahrgang 1946) besuchte das Humanistische Gymnasium. Er wuchs im 9. Gemeindebezirk auf, ganz in der Nähe von Franz Schuberts Geburtshaus. Schon vor der Einschulung verzauberte ihn an der Wiener Staatsoper Mozarts „Zauberflöte“ und Webers „Freischütz“ – die Oper wurde die Liebe seines Lebens. Mit 19 Jahren zog der gelernte Buchhändler nach München, auch dort wieder Oper, Konzert und wieder Oper. Peter kennt alle wichtigen Spielstätten wie die in Paris, Madrid, Verona, Wien und die New Yorker Met. Er hat alles singen und dirigieren gehört, was Rang und Namen hatte und hat – von Maria Callas und Herbert von Karajan bis zu Riccardo Muti und Anna Netrebko. Seit 26 Jahren lebt Peter in Berlin-Weißensee – in der deutschen Hauptstadt gibt es ja gleich drei Opernhäuser, die er auch kritisch rezensiert: u.a. für das Magazin ORPHEUS – Oper und mehr. Buchveröffentlichungen: „‘Wir Künstler sind andere Naturen.‘ Das Leben der Sächsischen Hofopernsängerin Margarethe Siems“ und „Die drei Leben der Jetty Treffz – der ersten Frau des Walzerkönigs“. Peter ist seit 2018 Autor bei klassik-begeistert.de.
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