von Peter Sommeregger
Opernlibretti halten in der Mehrzahl dem Vergleich mit dem wirklichen Leben nicht stand, selbst wenn historische Persönlichkeiten in einer Oper vorkommen, ist ihre Rolle vielfach geschönt oder verfremdet. Man denke nur an das betörend schöne Liebesduett Nerone/Poppea am Ende von Monteverdis „Krönung der Poppea“. Im richtigen Leben starb Poppea an den Folgen eines Fußtrittes von Nero, was sich sicher nicht so melodiös hätte umsetzen lassen.
Erstaunlicherweise gehen aber manche Libretti, die als besonders unglaubwürdig verschrien sind, auf Überlieferungen tatsächlich so oder ähnlich stattgefundener Geschichten zurück. Verdis „Forza del Destino“, sogar sein „Trovatore“, aber auch Beethovens „Fidelio“ haben ihren Ursprung angeblich in wahren Begebenheiten. Das Motiv der als Mann verkleideten Frau findet sich häufiger, es gab in früheren Jahrhunderten immer wieder Frauen, die um ihnen wegen ihres Geschlechts Verwehrtes wagen zu können, zur List der Verkleidung griffen.
OpernsängerInnen müssen während einer längeren Karriere so viele Todesarten, Verbrechen, und andere unerfreuliche Dinge auf der Bühne erleiden, dass man sie privat für gefeit gegen solche Schicksale hält. Das Beispiel Lilli Lehmanns, der Primadonna assoluta des späten 19. Jahrhunderts, die noch bis ins 20. Jahrhundert eine der einflussreichsten Persönlichkeiten des Europäischen Musiklebens war, zeigt, wie schnell sich eine Opernpartie in Realität wandeln kann.
Bei allen künstlerischen Triumphen war Lilli Lehmann in ihrem Privatleben lange Zeit nicht glücklich, eine Verlobung musste gelöst werden, und den Wunsch nach eigenen Kindern kompensierte sie durch die Fürsorge für die nicht eheliche Tochter Hedwig ihrer Schwester Marie. Sie bildete das Mädchen zur Sängerin aus und beschäftigte sie als eine Art Sekretärin, die sie auf ihren zahlreichen Reisen auch ins Ausland begleiten musste. Mitte der 1880er Jahre begann Lehmann wohl eine Affäre mit dem sieben Jahre jüngeren Tenor Paul Kalisch, der an der Berliner Hofoper häufig ihr Partner war. Als sie zum wiederholten Male 1887 ein Engagement an der Metropolitan Opera in New York antrat, ließ sie heimlich im Februar 1885 Kalisch ihn nach New York nachreisen. Am Tag seiner Ankunft, dem 24.Februar 1888 ließ sie sich medienwirksam mit ihm trauen, als ihre Trauzeugin fungierte die Nichte Hedwig Helbig.
Auch in dieser Zeit waren gute Tenöre weltweit eine seltene Spezies. Lilli Lehmanns Plan ging auf, und sehr bald war auch ihr frisch gebackener Ehemann an die Met engagiert. Neben verschiedenen Wagner-Opern trat das Paar auch erfolgreich in Bellinis „Norma“ als Ehepaar auf. Norma ist in dieser Oper die Betrogene, ihr Ehemann unterhält ein heimliches Verhältnis mit der Priesterin Adalgisa.
Als Lehmann etliche Jahre später in Berlin eine Reihe von Arien und Duetten für das neue Medium Schallplatte aufnahm, wählte sie sich ihre Nichte und Schülerin Hedwig als Partnerin. So entstand u.a. eine Einspielung des Duetts Norma/Adalgisa aus „Norma“. In der Zwischenzeit hatte die mehr als gut verdienende Sängerin neben einer Villa im Berliner Grunewald auch ein Ferienhaus in Scharfling am österreichischen Mondsee bauen lassen. Dort verbrachten sie und Kalisch, aber auch die Schwester Marie und Nichte Hedwig so viel Zeit wie möglich, wobei Lilli durch ihre Lehrtätigkeit in Berlin das Ferienhaus nicht so häufig nutzen konnte.
Nun, Gelegenheit macht Liebe- und Diebe. Es ist das Geheimnis aller Beteiligten geblieben, wann die Affäre zwischen Paul Kalisch und Hedwig Helbig begann, und zu welchem Zeitpunkt Lilli Lehmann davon erfuhr. Ihr Umgang mit dem privaten Norma-Schicksal gestaltete sich jedenfalls äußerst nobel und nicht so blutrünstig wie in Bellinis Oper. Lilli überließ dem neuen Paar stillschweigend das Haus in Scharfling, die Ehe blieb auf dem Papier bis zu Lehmanns Tod 1929 aufrecht. Kalisch und Helbig, die nie eine Sängerkarriere angestrebt hatte, blieben bis zu Kalischs Tod 1946 ein Paar und bewohnten das Haus gemeinsam. Auf dem Friedhof in Mondsee sind sie in einem Grab bestattet . Kaum Einer weiß heute mehr von dieser Geschichte, die sehr von der Oper inspiriert zu sein scheint.
Peter Sommeregger, 16. Juni 2020, für
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Sommereggers Klassikwelt 39: Von der Singakademie zum Maxim-Gorki-Theater
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Der gebürtige Wiener Peter Sommeregger (Jahrgang 1946) besuchte das Humanistische Gymnasium. Er wuchs im 9. Gemeindebezirk auf, ganz in der Nähe von Franz Schuberts Geburtshaus. Schon vor der Einschulung verzauberte ihn an der Wiener Staatsoper Mozarts „Zauberflöte“ und Webers „Freischütz“ – die Oper wurde die Liebe seines Lebens. Mit 19 Jahren zog der gelernte Buchhändler nach München, auch dort wieder Oper, Konzert und wieder Oper. Peter kennt alle wichtigen Spielstätten wie die in Paris, Barcelona, Madrid, Verona, Wien und die New Yorker Met. Er hat alles singen und dirigieren gehört, was Rang und Namen hatte und hat – von Maria Callas und Herbert von Karajan bis zu Ricardo Muti und Anna Netrebko. Seit 25 Jahren lebt Peter in Berlin-Weißensee – in der Hauptstadt gibt es ja gleich drei Opernhäuser, die er auch kritisch rezensiert: u.a. für das Magazin ORPHEUS – Oper und mehr. Buchveröffentlichungen: „‘Wir Künstler sind andere Naturen.‘ Das Leben der Sächsischen Hofopernsängerin Margarethe Siems“ und „Die drei Leben der Jetty Treffz – der ersten Frau des Walzerkönigs“. Peter ist seit 2018 Autor bei klassik-begeistert.de.