von Peter Sommeregger
Die ältere Dame war im Begriff die Treppe des Brüsseler Bahnhofs abwärts zu gehen, als sie plötzlich stolperte. Ihr männlicher Begleiter musste hilflos zusehen, wie sie über die Stufen hinunterstürzte und am Ende der Treppe bewusstlos liegen blieb. Schnell war ein Krankenwagen zur Stelle, und die offenbar erheblich verletzte Dame wurde in ein Brüsseler Krankenhaus gebracht. Trotz einer Notoperation verstarb die Patientin noch am gleichen Tag. So geschehen in Brüssel, am 7. Dezember 1960. Dieses bedauerliche Ereignis, hätte normalerweise kaum Aufsehen erregt, aber bei der so tragisch Verunglückten handelte es sich um die weltberühmte Pianistin Clara Haskil. Ihr Begleiter und Zeuge des Unfalls war der Geiger Arthur Grumiaux, mit dem sie am folgenden Tag ein Konzert hätte geben sollen.
Die mit knapp 66 Jahren so plötzlich aus dem Leben gerissene Clara Haskil, 1895 als Tochter sephardischer Juden in Bukarest geboren, hatte in vieler Hinsicht ein schwieriges Leben, trotzte ihrem Schicksal aber mit erstaunlicher Widerstandskraft eine bedeutende musikalische Laufbahn ab.
Den ersten Klavierunterricht erhielt sie bereits mit drei Jahren von ihrer Mutter, die nach dem frühen Tod des Vaters allein für die Ausbildung ihrer insgesamt drei Töchter sorgte. Als Sechsjährige kam Clara an das Bukarester Konservatorium, ehe sich ein Onkel des hoch begabten Kindes annahm, und es zur weiteren Ausbildung nach Wien und später nach Paris mitnahm. Sie studierte parallel Geige und Klavier, bis sie sich schließlich für eine pianistische Laufbahn entschied. Bereits mit elf Jahren war sie an einer schweren Skoliose, einer Verkrümmung der Wirbelsäule erkrankt, die ihr zeitlebens Schmerzen, besonders beim Klavierspiel bereitete. Trotz dieses Handicaps begann sie eine rege und erfolgreiche Konzertkarriere, die sie bis in die USA führte. In den wirtschaftlich schwierigen zwanziger Jahren konnte sie mit ihrem Spiel noch nicht viel Geld verdienen, und konnte sich noch nicht einmal einen eigenen Flügel leisten.
Trotz aller Widrigkeiten, zu denen auch das Erstarken des Nationalsozialismus zählten, setzte sie zum Trotz ihrer Krankheit und extremen Lampenfiebers ihre Karriere konsequent mit Auftritten u.a. in Belgien und in der Schweiz fort. Nach der Besetzung Frankreichs floh sie vor den Nationalsozialisten nach Marseille, wo sie mit anderen Juden Zuflucht bei einer Gräfin Pastre fand. Vor der Besetzung Marseilles durch die Deutschen gelang ihr schließlich die Flucht in die Schweiz.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges konnte sie endlich einen eigenen Konzertflügel erwerben, da ihre internationale Karriere nun an Fahrt aufnahm. Sie konzertierte mit vielen bedeutenden Orchestern in den europäischen Musikzentren, spielte auch viel Kammermusik, wobei ihre bevorzugten Partner der ungarische Pianist Geza Anda, der spanische Cellist Pablo Casals und der belgische Geiger Arthur Grumiaux waren.
Wolfgang Amadeus Mozart war der erklärte Lieblingskomponist Haskils, ihre hoch gerühmten Einspielungen seiner Werke sind neben anderen bedeutenden Plattenaufnahmen das künstlerische Vermächtnis Haskils, die auch 60 Jahre nach dem Tod der Künstlerin in immer neuen Editionen erscheinen und für jüngere Pianisten als das Maß aller Dinge gelten. Ihre letzte Ruhestätte fand Haskil zusammen mit ihren beiden Schwestern auf dem Pariser Friedhof Montparnasse, wo ihr Grab bis heute von Verehrern ihrer Kunst mit Blumen geschmückt wird.
Peter Sommeregger, 8. Dezember 2020, für
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Der gebürtige Wiener Peter Sommeregger (Jahrgang 1946) besuchte das Humanistische Gymnasium. Er wuchs im 9. Gemeindebezirk auf, ganz in der Nähe von Franz Schuberts Geburtshaus. Schon vor der Einschulung verzauberte ihn an der Wiener Staatsoper Mozarts „Zauberflöte“ und Webers „Freischütz“ – die Oper wurde die Liebe seines Lebens. Mit 19 Jahren zog der gelernte Buchhändler nach München, auch dort wieder Oper, Konzert und wieder Oper. Peter kennt alle wichtigen Spielstätten wie die in Paris, Barcelona, Madrid, Verona, Wien und die New Yorker Met. Er hat alles singen und dirigieren gehört, was Rang und Namen hatte und hat – von Maria Callas und Herbert von Karajan bis zu Riccardo Muti und Anna Netrebko. Seit 26 Jahren lebt Peter in Berlin-Weißensee – in der deutschen Hauptstadt gibt es ja gleich drei Opernhäuser, die er auch kritisch rezensiert: u.a. für das Magazin ORPHEUS – Oper und mehr. Buchveröffentlichungen: „‘Wir Künstler sind andere Naturen.‘ Das Leben der Sächsischen Hofopernsängerin Margarethe Siems“ und „Die drei Leben der Jetty Treffz – der ersten Frau des Walzerkönigs“. Peter ist seit 2018 Autor bei klassik-begeistert.de.