Nicht jedem ist es gegeben, wie der über 90-jährige Herbert Blomstedt mit Elan und Schwung das Podium anzusteuern und nach wie vor stehend zu dirigieren. Beim letzten Konzert des großen Bernhard Haitink in der Philharmonie Berlin stieß der betagte Pultstar so deutlich an die Grenzen seiner physischen Belastbarkeit, dass man seinen Rückzug vom Konzertbetrieb wenig später gut nachvollziehen konnte.
von Peter Sommeregger
Ein festes Ritual in den Konzertsälen der Welt besteht darin, dass Dirigenten und Solisten eines Konzertes während des Applauses das Podium und den Saal verlassen, um erst bei anhaltendem Beifall zu weiteren Verbeugungen zurückzukehren. Dieser Vorgang kann sich bei großer Begeisterung des Publikums einige Male wiederholen.
Das ist alles kein Problem für leichtfüßige Künstler in jüngeren oder mittleren Jahren. Wir alle kennen die schwungvolle Bewegung, mit welcher der hervorgerufene Dirigent das Orchester zum Aufstehen auffordert. Aber ebenso wie das durchschnittliche Konzertpublikum kommen auch viele Künstler in die Jahre und treten noch in einem Alter auf, das vorherige Generationen gar nicht lebend erreichten. Dann werden diese Rituale unfreiwillig zu Demonstrationen körperlicher Hinfälligkeit. Nicht jedem ist es gegeben, wie der über 90-jährige Herbert Blomstedt mit Elan und Schwung das Podium anzusteuern und nach wie vor stehend zu dirigieren. Beim letzten Konzert des großen Bernhard Haitink in der Berliner Philharmonie stieß der betagte Pultstar so deutlich an die Grenzen seiner physischen Belastbarkeit, dass man seinen Rückzug vom Konzertbetrieb wenig später gut nachvollziehen konnte. Auch beim gefeierten Zubin Mehta blickt man heute schon ängstlich auf seinen beschwerlichen Weg vom Künstlereingang bis auf das Podium. Ohne Gehstock ist dieser nicht mehr zu bewältigen, und das Publikum leidet stets ein wenig mit ihm.
Noch problematischer gestaltet sich dieser kurze, aber schwere Weg für Künstler mit Behinderungen. Ich erinnere mich noch gut an ein Konzert des Israelischen Geigers Itzhak Perlman, der als Knabe an Kinderlähmung erkrankt war, und unter deren Spätfolgen noch heute leidet. Für ihn waren diese Gänge vom und zum Podium eine große, mit seinen geschienten Beinen nur mit Hilfe von Krücken zu bewältigende Tortur. Das Publikum litt förmlich mit ihm, schwer verständlich, dass er diesen Weg mehrmals zurücklegte.
Für einige Jahre brachte es der Contergan-geschädigte Bariton Thomas Quasthof zu gewissem Ruhm in der Klassikszene. Seine Auftritte fielen dem Künstler mit seinen verkrüppelten Armen und Beinen nicht leicht. Der positiv veränderte Umgang unserer Gesellschaft mit Behinderten bescherte ihm eine durchaus respektable Karriere, die er nach dem Nachlassen seiner stimmlichen Kräfte heute in der Jazzmusik erfolgreich weiterführt.
Ein heikles Beispiel für einen behinderten Künstler ist der in seiner Kindheit erblindete Tenor Andrea Bocelli. Der Sänger, der eine große Bandbreite von der Popmusik bis zu ganzen Opernpartien bedient, ist allerdings unter ernsthaften Musikliebhabern freundlich gesagt umstritten. Da es für ihn nicht möglich ist, auf der Opernbühne aufzutreten, spielte er mehrere Opern komplett für Tonträger ein. Ein geschultes Ohr bemerkt aber sofort, dass auch ein normal sehender Bocelli nicht in der Lage wäre, diese Partien live auf der Bühne zu singen.
Manchmal denkt man, eine Hebebühne, wie sie in der Berliner Philharmonie für Konzertflügel benutzt wird, könnte die Lösung für das Problem sein. Greise Pultstars und andere Künstler könnten dann wie der sprichwörtliche deus ex machina auf das Podium gezaubert werden, und hätten so einen doppelt spektakulären Auftritt.
Peter Sommeregger, 5. November 2019, für
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Der gebürtige Wiener Peter Sommeregger (Jahrgang 1946) besuchte das Humanistische Gymnasium. Er wuchs im 9. Gemeindebezirk auf, ganz in der Nähe von Franz Schuberts Geburtshaus. Schon vor der Einschulung verzauberte ihn an der Wiener Staatsoper Mozarts „Zauberflöte“ und Webers „Freischütz“ – die Oper wurde die Liebe seines Lebens. Mit 19 Jahren zog der gelernte Buchhändler nach München, auch dort wieder Oper, Konzert und wieder Oper. Peter kennt alle wichtigen Spielstätten wie die in Paris, Barcelona, Madrid, Verona, Wien und die New Yorker Met. Er hat alles singen und dirigieren gehört, was Rang und Namen hatte und hat – von Maria Callas und Herbert von Karajan bis zu Ricardo Muti und Anna Netrebko. Seit 25 Jahren lebt Peter in Berlin-Weißensee – in der Hauptstadt gibt es ja gleich drei Opernhäuser, die er auch kritisch rezensiert: u.a. für das Magazin ORPHEUS – Oper und mehr. Buchveröffentlichungen: „‘Wir Künstler sind andere Naturen.‘ Das Leben der Sächsischen Hofopernsängerin Margarethe Siems“ und „Die drei Leben der Jetty Treffz – der ersten Frau des Walzerkönigs“. Peter ist seit 2018 Autor bei klassik-begeistert.de .
Viel Respekt für die Künstler, die trotz dem Alter und trotz körperlicher Störungen immer noch auftreten. Wie groß sollte ihre Liebe für Musik sein…
Jolanta Lada