Als die Sängerin Marian Anderson am 8. April 1993 im Alter von 96 Jahren starb, war ihr Ruhm bereits verblasst – und längst in Vergessenheit geraten, dass sie 1955 mit ihrem Debüt an der Metropolitan Opera New York amerikanische Geschichte schrieb. Anderson war nämlich Afro-Amerikanerin, und zwar die erste, die jemals als Solistin auf der Bühne dieses Hauses stand.
von Peter Sommeregger
Initiiert hatte dieses Debüt der legendäre General Manager der Met, Sir Rudolf Bing, dem als Jude Diskriminierung und Ausgrenzung nicht fremd waren. Marian Anderson war zu diesem Zeitpunkt eine viel beschäftigte Konzertsängerin, bei ihrem Met-Debüt war sie bereits 57 Jahre alt, die Rolle der Ulrica in Verdis „Maskenball“ bot sich als passend an, weil sie kurz ist und wenig schauspielerische Aktion erfordert. Bing war es auch mehr um das grundsätzliche Aufbrechen von gepflegten Vorurteilen gegangen.
Andersons Engagement an der Met blieb auch tatsächlich auf diese eine Rolle beschränkt, ein Jahr lang sang sie die Ulrica in allen „Maskenball“-Vorstellungen, auch bei den traditionellen Tournee-Aufführungen in anderen Städten.
Die Stärke Marion Andersons war in erster Linie geistliche Musik, auch Spirituals, Lieder von verschiedenen Komponisten, Oper nur am Rande. Hört man ihre Aufnahmen, so wird deutlich, dass ihr Temperament für die Oper wohl nicht sehr geeignet war, es fehlt ihr ein wenig an der zumeist geforderten Leidenschaftlichkeit. Im Konzertrepertoire konnte sie ihre große, technisch gut gebildete Stimme aber umso wirkungsvoller einsetzen. Die Stimme ist relativ schlank für einen Mezzosopran und klingt auch nicht so guttural wie bei vielen anderen Afro-Amerikanern. Es existiert eine größere Zahl von inzwischen auch auf CD erschienenen Aufnahmen, die das sehr persönliche Timbre der Sängerin perfekt bewahrt haben.
Marian Andersons Auftritt an der Met hatte einen Dammbruch bewirkt. Bei ihrem Debüt 1955 konnte noch niemand ahnen, dass nur sechs Jahre später mit Leontyne Price der zukünftige Star des Hauses die Szene betrat, ebenfalls eine Afro-Amerikanerin. Als die Met 1966 ihr neues Gebäude im Lincoln-Center bezog, sang die Price in der Eröffnungspremiere die Cleopatra in Samuel Barbers Auftragswerk „Antony and Cleopatra“. Ihre Eltern aus den Südstaaten hörten diese Aufführung in der Präsidentenloge, in die sie das Ehepaar Johnson eingeladen hatte. Was für ein Wandel der Verhältnisse!
Neben Leontyne Price wurden immer mehr „People of Colour“ am Haus beschäftigt. Shirley Verrett wurde beispielsweise so etwas wie die Nachfolgerin der Price, daneben waren Grace Bumbry, Martina Arroyo, Reri Grist, Gloria Davy und viele andere zu hören. Heute ist das die Normalität, aber dass dem nicht immer so war, lohnt den Blick in die Vergangenheit. Rudolf Bing, der zwar durchaus der Typus des Patriarchen war, hat mit der Bestimmtheit seines Auftretens viele Entwicklungen an dem traditionsreichen Haus angestoßen, die uns heute selbstverständlich erscheinen.
Peter Sommeregger, 13. April 2021, für
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Der gebürtige Wiener Peter Sommeregger (Jahrgang 1946) besuchte das Humanistische Gymnasium. Er wuchs im 9. Gemeindebezirk auf, ganz in der Nähe von Franz Schuberts Geburtshaus. Schon vor der Einschulung verzauberte ihn an der Wiener Staatsoper Mozarts „Zauberflöte“ und Webers „Freischütz“ – die Oper wurde die Liebe seines Lebens. Mit 19 Jahren zog der gelernte Buchhändler nach München, auch dort wieder Oper, Konzert und wieder Oper. Peter kennt alle wichtigen Spielstätten wie die in Paris, Barcelona, Madrid, Verona, Wien und die New Yorker Met. Er hat alles singen und dirigieren gehört, was Rang und Namen hatte und hat – von Maria Callas und Herbert von Karajan bis zu Riccardo Muti und Anna Netrebko. Seit 26 Jahren lebt Peter in Berlin-Weißensee – in der deutschen Hauptstadt gibt es ja gleich drei Opernhäuser, die er auch kritisch rezensiert: u.a. für das Magazin ORPHEUS – Oper und mehr. Buchveröffentlichungen: „‘Wir Künstler sind andere Naturen’. Das Leben der Sächsischen Hofopernsängerin Margarethe Siems“ und „Die drei Leben der Jetty Treffz – der ersten Frau des Walzerkönigs“. Peter ist seit 2018 Autor bei klassik-begeistert.de.
Sommereggers Klassikwelt 82, Franco Corelli zum 100. Geburtstag, klassik-begeistert.de