Ein musikalisches Ereignis trotz vokaler Eiseskälte

Sommernachtskonzert 2023, Wiener Philharmoniker, Yannick Nézet-Séguin  Schlosspark Schönbrunn, 8. Juni 2023 

Foto© Julius Silver

Sommernachtskonzert 2023

Schlosspark Schönbrunn, 8. Juni 2023 

Werke von Georges Bizet, Lili Boulanger, Hector Berlioz, Charles Gounod, Maurice Ravel und Camille Saint-Saëns

Solistin: Elīna Garanča, Mezzosopran

Wiener Philharmoniker
Dirigent: Yannick Nézet-Séguin

von Herbert Hiess

Seit 1904 gibt es diese Sommernachtskonzerte des ersten Orchester Österreichs am geschichtsträchtigen Ort Schönbrunn. War zu Beginn dieser Ära das Publikum noch so platziert, dass es Richtung Gloriette schaute, ist es jetzt umgekehrt – also schaut das Publikum in Richtung Schloss.

Beim 20. Konzert war der Fokus allein auf französische Komponisten und einer Komponistin gerichtet; da reichte die Bandbreite von Ausschnitten aus Bizets „Carmen“ bis hin zum gewaltigen „Boléro“ von Maurice Ravel.

Trotz Lautsprecherverstärkung konnten dank der Stabführung des genialen Dirigenten und dank der unbezahlbaren Philharmoniker so viele Details und Nuancen hörbar gemacht werden, dass einem nur sprichwörtlich der Mund offen blieb. Schon im berühmten „Carmen“-Vorspiel wirbelten die Musiker durch die Partitur und trotz des raschen Tempos erlebte man dieses Werk wie neu.

Zum Schluss des „Carmen“-Blocks der erste Auftritt des lettischen Mezzosoprans Elīna Garanča. Schon bei der Einführungsrede betonte Philharmoniker-Vorstand Daniel Froschauer, dass die Sängerin in Höchstform sei und nur Goldklänge verströmte. Stimmlich war sie tatsächlich in Höchstform und sie verströmte auch tatsächliche goldene Töne. Aber leider ließ sie schon bei der „Habanera“ jede musikalische Beteiligung vermissen; weder stimmlich noch von der Diktion her und ihrem Gesichtsausdruck fehlte es total an Emotionen; wie eine Verführerin wirkte sie keinesfalls. Fraglich, ob ein Don José hier tatsächlich „anbeißen“ würde.

Das Werk „D’un matin de printemps“ am Programm der Komponistin Lili Boulanger war offenbar mehr der Diversität als einer großen musikalischen Substanz zu verdanken. Sie war eine Zeitgenossin von Ravel, Albert Roussel usw. Unglücklicherweise wurde sie nur 25 Jahre alt – sie lebte von 1893-1918. 1917/18 brachte sie trotz ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigung dieses nette Werk zur Uraufführung, dass sowohl für Klavier und Flöte bzw. Violine, Klaviertrio und letztlich für großes Orchester existiert. Handwerklich wirklich exzellent – große emotionelle Wirkung verursachte dieses Stück im Konzert kaum.

Anders die großartige Ouvertüre zu Hector Berlioz Oper „Le Corsaire“. Da wirbelte das Orchester mit beispielloser Virtuosität durch die Partitur und machte gemeinsam mit dem superben Dirigenten das Werk zum Ereignis.

Genauso bei Ravels zweiter „Daphnis“-Suite. Hier konnten die Philharmoniker zeigen, welche Künstlerpersönlichkeiten sie in ihrem Ensemble haben. Schon die Holzbläser spielten beim „Sonnenaufgang“ (also gleich zu Beginn) auf atemberaubende Weise – die Klänge waren ein Ereignis schlechthin.

Den Schluss bildete dieses Mal der Klassiker „Boléro“. Bei dem spanisch angehauchten Werk konnte man die Musiker solistisch und in kleinen Gruppen bewundern .

Maestro Nézet-Séguin war für das Orchester (und natürlich das Publikum) der absolute Glücksgriff. Gemeinsam mit den Musikern schaffte er eben mit dem „Boléro“ und dem obligatorischen Johann Strauß-Sohn Walzer „Wiener Blut“ einen Abschluss, den man so schnell nicht vergisst.

Als Novität wurde der „Boléro“ sogar getanzt; die Tänzer waren als überdimensionierte Schattenfiguren an der Schlosswand zu sehen. Vier Paare waren im Einsatz, die sich mit einer traumhaften Synchronität bewegten. Die Choregraphie war sehr spanisch orientiert; eine Freude, den Tänzerinnen und Tänzer da zuschauen zu dürfen.

Schade, dass die meisten Werke von Elīna Garanča  mit einer stark fühlbaren Distanz gesungen wurden. Aalglatt wäre das richtige Wort. Die „Sapho“ Arie von Charles Gounod war noch ihr echter Höhepunkt; die berühmte Arie der Dalila „Mon coeur s’ouvre à ta voix“ war höflich gesagt wenig berührend.

Wenn Frau Garanča nur halb so interessant gesungen hätte, wie Maestro Nézet-Séguin dirigiert und das Orchester gespielt hatten, wäre es schon ein Fest gewesen. Leider hat sie diesmal bewiesen, dass es nicht immer ausreicht, nur eine schöne Stimme zu haben. Ihre Stimme hat zwar Weltklasseformat, in Punkto Ausdruck und Musikalität wäre dann doch noch etwas Luft nach oben.

Mit Maestro Nézet-Séguin hat man wahrlich eine Entdeckung für Wien gemacht; die Orchesterintendanz sollte rasch bei ihm wegen freier Termine vorstellig werden.  Eine „Blutauffrischung“ kann hier nicht schaden.

Und dieser Mann hat tatsächlich was „am Kasten“; den sollte man nicht ohne Weiteres ziehen lassen!

Herbert Hiess, 9. Juni 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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