Foto: Teodor Currentzis mit dem SWR Symphonieorchester im Juni 2019 © Claudia Höhne
SWR Symphonieorchester, Teodor Currentzis,
Gustav Mahler, Sinfonie Nr. 9 D-Dur,
Elbphilharmonie, 17. Dezember 2019
von Ulrich Poser
„Ich bin die beste Sorte Deutscher: Begeistert von der Musik eines großen Juden.“ Diese Zeilen stammen aus dem Gedicht „Mahler“ des als Kind in die USA ausgewanderten Autors Charles Bukowski, der Mahlers Musik sehr liebte und an einigen Stellen in seinem Werk immer wieder Bezug auf sie nahm: „Und im Radio spielten sie eine Sinfonie von Mahler.“
In der Elbphilharmonie wurde an diesem ganz besonderen Abend Mahlers 9. Sinfonie D-Dur gegeben; die Darbietung war aus mehreren Gründen umwerfend.
Die Musik des ersten Satzes, Andante comodo, ist nicht unbedingt leicht zu verstehen; als eingängig würde man sie nicht gerade bezeichnen. Überwiegend typische mahlersche Dissonanzen, teilweise sehr, sehr leise, teilweise im Fortissimo. Es ist unstreitig, dass die Musik dieses Werkes die Grenze zur neuen Musik des 20 Jahrhunderts markiert. Natürlich mit Ausnahme des eingängigen, etwas täppischen und sehr derben 2. Satzes im Tempo eines gemächlichen Ländlers.
Teodor Currentzis und das SWR Symphonieorchester haben an diesem Abend einen Geniestreich vollbracht, dem man höchste Präzision, akkurates Timing, professionelles Zusammenspiel und einen betörend-schönen eigenständigen Orchesterklang bescheinigen kann. Das aus über 100 Musikern bestehende Orchester mit u.a. allein 10 Bassisten, 4 Schlagzeugern und einem Paukisten präsentierte Mahlers Abschiedswerk darüber hinaus in höchstem Maße dynamisch und schon allein deshalb mitreißend.
Die Schwelle des Könnens bei Weitem überschritten habend, trat der orchestrale Gipfel der Kunst im letzten, dem 4. Satz, dem „Adagio. Sehr langsam und zurückhaltend“ besonders hervor. Die letzten Takte verklangen derart zurückhaltend, leise und würdevoll; solche grenzenlosen Piani an der Schwelle zur Stille hat der Rezensent noch in keinem Konzert vorher gehört, so dass an dieser Stelle das Attribut einzigartig verliehen werden muss. Wäre man mit einer gewissen Imaginationskraft ausgestattet, hätte man sich zu diesen Wunderklängen leicht vorstellen können, wie der nach seinem Tod gen Himmel auffahrende Gustav Mahler im Himmelreich als Erstes seinen geliebten Richard Wagner trifft und mit den Worten „Hier bin ich, Vater“ begrüßt.
Und man stelle sich vor: Nach dem Verklingen des letzten hörbaren Tones vergingen über 60 Sekunden bis der frenetische Applaus einsetzte. Hat man so etwa je erlebt? Huldigte man hier dem Hohepriester Teodor Currentzis? War das irdisch?
Dieser Rockstar unter den Dirigenten ist anders als andere Dirigenten. Zum einen sieht er aus wie ein Mitglied der Band The Cure; groß, schlank, in Schwarz gekleidet und mit einer unkonventionell-modernen Frisur. Er dirigiert zielgerichtet unter großem körperlichen Einsatz, der gelegentlich an die untauglichen Flugversuche eines schwarzen Schwanenkükens erinnert. Das ist ebenso sehenswert wie die einstudierte und choreographierte gemeinsame Verbeugungszeremonie am Schluss. Dirigent und Orchester präsentieren sich auch insoweit als künstlerisches Gemeinschaftsprojekt, das an einem Strang zieht. Bravo!
Nach lang anhaltendem Beifall ergriff Currentzis das Mikrophon und erklärte, dass Stille das größte Gut der Menschheit sei. Er kündigte eine Überraschungspause und eine Überraschungszugabe, das 1989 komponierte Stück „Hay que caminar“ sognando / für zwei Violinen, an. Currentzis bat ausdrücklich darum, dass die Zugabe nach der Pause nur von demjenigen Teil des Publikums genossen werden sollte, der 20 Minuten Zeit für Stille zu investieren bereit sei. Alle anderen treffe er gern nächstes Mal wieder. Leider wurde dem Wunsch von einigen Konzertbesuchern (ekelerregendes Abhusten in einer Lautstärke von über 80 Dezibel zur unpassenden Zeit) nicht nachgekommen. Auch der Anteil an Bustouristen, die mit neuer Musik nichts anfangen können und mitten in der Darbietung aufstehen und klappernd und rumpelnd zum Ausgang gingen, störte. Vielleicht stellt man beide Entgleisungen eines Tages doch noch unter Geldstrafe…
Der Konzertmeister Jeromolaj Albiker und seine Kollegin Vivica Percy brillierten mit ihren träumenden Instrumenten. Ein besonderer Effekt war der mehrfache Positionswechsel im Saal.
Alles in allem ein ganz besonderer Abend, der den Rezensenten beglückt und sprachlos in die Nacht entließ.
Ulrich Poser, 18. Dezember 2019, für
klassik-begeistert.de
Sehr geehrter Herr Poser,
das Konzert war wirklich großartig, ja!
Weniger großartig und vor allem unangemessen ist allerdings Ihre Wortwahl. In der Sache haben Sie natürlich vollkommen Recht, die „Geräusche“ der Konzertbesucher stören gewaltig, dennoch ist es billig und peinlich, wenn Sie diese als „Konzerthonks“ und „Bustouristen“ beschimpfen.
Warum hängen Sie sich daran so auf? Immer und immer wieder wird in diesem Blog auf diese Menschen geschimpft.
Sollten wir uns nicht lieber auf die großartigen Darbietungen der Künstlerinnen und Künstler konzentrieren und uns daran erfreuen?
Wir werden nicht verhindern können, dass gehustet, gekramt und gelärmt wird….. und im großen Saal der Elbphilharmonie einfach alles zu hören ist. Es wurde jetzt wirklich genug geschimpft!
Auf ein gutes neues Jahr mit ganz viel schöner Musik – und Stille rundherum 😉
Viele Grüße,
Jessica Lang
Liebe Frau Lang,
wir können uns nur auf die Kunst konzentrieren, wenn die Zuschauer sich so verhalten, wie es dem gesunden Menschenverstand gemäß zu erwarten ist: ruhig. Auch von mir null Verständnis für Menschen, die sich im Konzerthaus nicht zu benehmen wissen. Wir werden diesen Missstand immer wieder benennen. Die Elbphilharmonie müsste durch regelmäßige Ansagen viel deutlicher diese Unsitten bekämpfen. Leider ist das Lärmniveau in Hamburgs Kulturperle im Vergleich mit deutschen, österreichischen und italienischen Konzert- und Opernhäusern mit Abstand am höchsten. Wer Lärm und Unruhe zulässt, beraubt sicher der Größe der Kunst. Herzlich, Andreas Schmidt, Herausgeber
Ich stimme Ihnen absolut zu, Frau Lang. Danke für Ihren Kommentar.
Stefan Hilger
Lieber Stefan,
moin moin, wir kennen uns ja. Darf ich mal fragen: Magst Du fremdes Gesabbel während eines Konzerts? Magst Du notorisch unruhige, hippelige Menschen im Konzertsaal? Kannst Du Dich an Hustenorkanen erfreuen? Jubelst Du, wenn Deine Nachbarn das Konzert mit dem Handy filmen oder auf dem Handy whatsapps schreiben? Applaudierst Du, wenn Menschen, wie leider oft in der Elphi, während des Konzertes vorzeitig den Saal verlassen – während die Musik ertönt?
Wer oft in die Elphi geht, kriegt leider immer wieder Erschreckendes und Unappetitliches mit, was von der wahren Größe der Musik ablenkt.
Herzlich aus der Nachbarschaft und Dir frohe Weihnachten
Andreas
Bei dem Thema fällt mir eine Anekdote zu Rachmaninow ein: Der spielte seine 20 Corelli-Variationen jeweils abhängig davon, wie stark im Publikum gehustet wurde. Einmal lieferte er sogar nur die Hälfte ab. Das muss sich herumgesprochen haben, denn bei einem späteren Konzert in New York schaffte er ganze 18 Variationen. Das scheint mir eine gute Medizin zu sein.
Stefanie S.
Ich muss Herrn Schmidt und Herrn Poser beipflichten. Als ausländischer Rezensent komme ich mehrmals während einer Konzertsaison in den Grossen Saal der Elbphilharmonie. Man hat oft das Gefühl, dass die wenigsten Besucher wegen der Musik in eine Veranstaltung gehen. Die anderen sind so sehr mit sich selbst – oder ihren Sitznachbarn – beschäftigt, dass ihnen die Musik eher nebensächlich erscheint.
Völlig richtig, Herr Poser.
Bekannterweise werden ja von Reiseveranstaltern div. Kartenkontingente aufgekauftl, und unter diesen Besuchern sind leider viele Zuschauer und keine Zuhörer.
Leider geht es dabei nicht um die Musik!
Bernd Volmer