Foto: Thies Rätzke (c)
Laeiszhalle Hamburg, Großer Saal
10. Symphoniekonzert, 24. Juni 2018
Symphoniker Hamburg
Andris Poga, Dirigent
Ein Gastbeitrag von Teresa Grodzinska
Wie immer gespannt und aufgeregt begab ich mich in den Großen Saal der Laeiszhalle. Diesmal konnte ich diesen wunderschönen, trotz seiner stattlichen Größe gemütlich wirkenden Saal in Ruhe betrachten: eine Mischung aus Pseudobarock und protestantischer Kirchenarchitektur des beginnenden 20. Jahrhunderts begegnete mir wie Hamburg vor 38 Jahren: freundlich distanziert. Carl Laeisz verfügte in seinem Testament 1904 den Bau einer Musikhalle für Hamburg. Und das heißt in Hamburg immer: für alle Hamburger. Also kein Prunk und keine Herrlichkeit, aber auch keine hemdsärmelige „Halle“ für alle. Nein: die Laeiszhalle bedient keinen bestimmten Geschmack, daher fühlen sich hier Hinz und von der Kunzinski gleichermaßen wohl. Der Saal füllt sich langsam, das 10. Konzert ist auch das letzte dieser Saison. Der Dirigent heute: Andris Poga. Er gibt sein Debüt bei den Symphonikern Hamburg.
Poga, mit seinen 38 Jahren ein junger Spund, hatte viele Stationen als Dirigierwettbewerb-Gewinner, Assistent bei den besten Orchestern der Welt in Paris, Boston und St. Petersburg. Jetzt Einstand in Hamburg. Interessant.
Das Konzert wird zu einem Geschenk von Poga an die Symphoniker. Selten sieht man so selige Gesichter bei den Streichern links und rechts auf dem Podium wie an diesem Abend. Auf mich wirkten sowohl die Symphonische Dichtung op. 55 von Jean Sibelius wie auch die Symphonischen Tänze op. 64 von Grieg einseitig, um nicht zu sagen eintönig. Aber zum Spielen und Entspannen für die Musiker auf der Bühne ideal. Ich kämpfte mit einlullender Müdigkeit. Ich rieb mir die Ohren und betete zu allen Göttern der Konzertberichterstatter (Hermes? Nein. Pallas Athene – schön wäre es, aber zu viel der Ehre… Morpheus – um Gottes Willen, nein! Ich weiß: einfach Venus… die Liebe umfasst auch die Liebe zur Musik. Ja, die Venus wird mich wachhalten.)
Ich schlief nicht ein, aber die Nachbarin zu meiner Linken legte unvermittelt ihren Kopf auf meine Schulter. Ihr Mann zu ihrer Linken schlief schon lange mit dem Kopf auf seiner Brust. Wenn es der Wahrheitsfindung dient…
Ich liebe beide: Sibelius und Grieg, aber die Auswahl von Poga war – in meinen Augen – ziemlich blauäugig. Das Geschenk an die Symphoniker Hamburg (noch etwas traumatisiert nach dem plötzlichen Tod ihres hier sehr geliebten und geschätzten Chefdirigenten Jeffrey Tate) war lieb gemeint und gab Poga und dem Orchester die Gelegenheit, den letzten Abend dieser Saison zu bestreiten.
Grieg habe ich als Jugendliche geliebt und einfachere Teile der Peer-Gynt-Suite auf dem Klavier gespielt. Es war mein Allerliebstes. Hier enttäuschten mich die Symphonischen Tänze ein bisschen. Im 2. oder 3. Tanz glaubte ich Motive aus „In der Halle des Bergkönigs“ zu hören. Vielleicht suchte ich einfach einen Anker, um durchzuhalten.
Der Applaus nach den beiden ersten Stücken war warm, herzlich aber nicht überbordend. Poga – von in der Sowjetunion sozialisierten Lehrern im frisch unabhängigen Lettland ausgebildet – dirigiert wie die Russen: extrem gefühlsbetont, breit in der Gestik. Das Orchester folgte ihm gern. Man merkte die Entspannung. Ein Pärchen in der Reihe hinter mir flüsterte auf Russisch: „Kak w rodinie“ – wie in der Heimat. Wie schön für die beiden…
Meine musische Wahrnehmung lebt aber von Kontrasten und Überraschungen. Sonst stumpfe ich ab. Somit verließ ich in der Pause den ehrwürdigen Saal, um frische Luft zu schnappen und mir die Beine zu vertreten. Die trugen mich – gegen meinen Willen, ich schwöre bei Venus! – nach Hause. Dort spielte die polnische Fußballmannschaft gerade gegen Kolumbien auf. Wäre ich bloß in der Laeiszhalle geblieben…
Von schlechtem Gewissen geplagt, suchte ich „Das Unauslöschliche“ von Carl Nielsen auf YouTube. Fand eine Aufführung mit Sir Simon Rattle. Er dirigiert wie ein Cherubin, sieht auch genauso aus, geht in die Vollen, alles wie bei Poga, aber: er ist schneller. Viel schneller. Das war die Krux: Poga ließ den Symphonikern ihren Willen, und das Tempo ließ nach.
Bei den Symphonikern 40 Minuten statt 34,5 wie bei Rattle. „Das Unauslöschliche“ geht daran nicht zu Grunde. Aber ich. Polen vs. Kolumbien 0 : 3. Und die Gewissensbisse gegenüber den Blog-Lesern bescherten mir zwei schlaflose Nächte.
Teresa Grodzinska, 26. Juni 2018, für
klassik-begeistert.de
Die Autorin Teresa Grodzinska ist neulich erst zum 2. Akt Figaro in die Vorstellung gekommen, vorher lief ja noch Fußball. Nun hat sie ein Sinfoniekonzert vorzeitig verlassen um … Fußball zu schauen?
Weiß ja nicht so recht, in solch einem Fall dann doch besser gar nicht von einer Vorstellung berichten!
„Opernlegende“