Laeiszhalle, Martha Argerich © Cove Nouveau
Laeiszhalle, 25. April 2024
SYMPHONIKER HAMBURG / MARTHA ARGERICH / SYLVAIN CAMBRELING
Boesmans: Chambres d’à côté / Ravel: Klavierkonzert / Prokofjew: Suiten aus »Romeo und Julia«
von Harald Nicolas Stazol
Dreimal steht die Laeiszhalle wie ein Mann – die Frauen selbstverständlich auch – nicht einmal, nicht zweimal, DREIMAL!!! Warum? Weil Martha Argerich gerade das Ravel Klavierkonzert gegeben hat, mit einer romantischen Hingabe, stupender Präzision und einer Technik, die wohl kaum zu übertreffen ist – und als wir alle um eine Zugabe flehen, gibt sie den rasanten dritten Satz mit den ebenfalls rasanten Symphonikern Hamburg eben noch einmal, nun nochmal rasanter – und im Vergleich mit den Aufnahmen von 2010 und 2022 kann ich konstatieren, nun aber in direkter Gegenüberstellung: Sie spielt nie zweimal gleich.
Da haben sie die dankbaren Hamburger schon mit Blumen überhäuft, in der Halle, die sie einen Tag vorher bei der Vorstellung des „Martha Argerich Festivals“ (20.-30. Juni) im Intendantenbüro als „klingend“ beschrieben hat, ich habe einen Handkuss angedeutet und ihr gesagt, wie sehr ich mich auf Maurice Ravel freue, „Ja, der Ravel“ sagt sie, nein eigentlich flüstert sie es. Da ist der zurückhaltende, ein wenig flatternde Blick, Mann, nun bedrängt sie doch nicht so mit euren Mikros und den trivialen Fragen, möchte man den beiden Radiodamen zuwerfen, so fragil wirkt die 82-jährige, fein, fast durchscheinend, wie Morgain le Fay.
Und während ich vor Ehrerbietung verstumme und erstarre, einmal lächelt sie mich an, nun, da spricht sie, ganz leise wieder, „Die Laeiszhalle lebt. Sie ist lebendig. Sie ist nicht passiv. Ich habe hier schon mit 18 gespielt, und war auch oft im Publikum. Ich habe Horowitz dort gehört bei seinem letzten Konzert…“, sie hat eine lange Geschichte mit dem Haus, und spielt am liebsten abends und nachts – üben kann man das ja wohl nicht mehr nennen?
Aber die gegenwärtigen Geschehnisse, nun „I am concerned“, über die Weltlage, „was kann man denn jetzt tun? Musik machen!“ – na, und wie sie die macht! Bei Friedrich Gulda hat sie studiert, und Arturo Benedetti Michelangeli – den wiederum habe ich hier gehört, 1992, wenn ich meinen Tagebüchern glauben kann – und dieser Tag des Sie-Treffens, und dieser einen Wimpernschlag nur spätere Abend des Sie-Hörens – dafür werde ich kein Tagebuch mehr brauchen! Sowas vergisst man nicht. So etwas vergisst man nie.
„Hat sie denn fünf Hände“ fragt mich meine Begleitung. Leonie, ich habe sie ganz spontan mitgenommen, als Drittbesetzung sozusagen, ohne ihr damit zu nahe treten zu wollen, hat doch mein treuer Rocco abgesagt, und nun hänge ich mich zwei Stunden ans Telefon, und an WhatsApp und an sämtliche Kanäle, und versuche etwaigen Mitbesuchern flehentlich-energisch klarzumachen, was sie an diesem Abend erwartet, „Das wird unglaublich! Wirklich! A once-in-a-lifetime-experience!“
Umsonst, ach umsonst, alles Banausen – aber Leonie darf früher Schluss machen im Studi-Job, und so kommt sie im „Post-Punk-Look“, pünktlich um 19 Uhr, sorgsam geschminkt in aller Eile, da hat sich auf dem Johannes-Brahms-Platz schon eine Air der freudigen Erwartung eingestellt, ein jeder weiß, dass nun ganz Besonderes zu erwarten ist, und oben, wir finden einen Platz im Foyer auf den grünen Fauteuils, sinnigerweise direkt vor der Büste der Clara Schumann, da sagt das ältere Paar: „Wir sind ja nur Laien, aber wir mögen sie gern, deswegen sind wir gekommen!“
Wir mögen sie gern? Die Hamburger LIEBEN sie! Schon beim ersten Anschlag des Konzertes, das ja mit einem Peitschenknall beginnt, beginnt die Argerich los zu peitschen, dass einem ganz blümerant wird, und schon jetzt sehe ich gebannte Gesichter auf den Balkonen, auf beiden Etagen. Sie werden gebannt bleiben, beim so fein-langsamen zweiten Satz, bis über den schnellen dritten hin – und ein Publikum habe ich ebenso wenig so schnell aufschnellen sehen! Et encore une fois, plus vite? Pas de problème!
Nach der zweiten stehenden Ovation und noch mehr Blumen kommt noch ein Glanzstück, diesmal solo – Schumanns „Traumeswirren“, da denke ich noch, wie kann ein Mensch nur so virtuos sein (und verweilten wir nicht eben noch oben vor Claras Büste? Ich sage ja, der Abend ist verzaubert!), und schon wieder steht der Saal – das muss man erstmal bringen!
Aber die Symphoniker und Silvain Cambreling bringen’s halt – mal wieder – auch! Ganz zuvörderst in kleiner Besetzung die „Geräusche aus der Nachbarwohnung“ von Philippe Boesmans – na, solche Nachbarn möchte man gerne haben, da wird in mehreren Sätzen Geräuschen nachgehört, wie man sie vielleicht in Paris erlauschen mag, eine sehr schöne und überraschende Assemblage – vielleicht sollte ich sie meinen Nachbarn denn doch einmal zu Gehör bringen? Nur Vorsicht, dringt doch aus meiner Wohnung recht eigentlich nur, nein, WIRKLICH nur Klassik.
In der Pause allüberall glückliche Gesichter, Martha Argerich hat es ermöglicht – sagte sie nicht gestern, „Die Halle spielt wie ein Instrument“?, da ist auch Leonie die Last des Jobs vom Tage abgefallen, „Und nun gibt’s Romeo und Julia von Sergej Prokofjew, das wird Dir gefallen!“
Und da ist er schon, der „Tanz der Schwerter“, und die zitternde Julia, und der Kampf Thybalts mit Mercutio, und alles und alles, und manchmal hebt es den wieder einmal überragenden Konzertmeister fast vom Stuhl, und dass Cambreling sich auf dem Pult bei dieser Kraft der Töne überhaupt noch auf dem Pult halten kann, da schwingt sein grauer Pferdeschwanz à la rotonde wie eben noch Marthas ebenso graue lang-wehende Haare!
Und dann ersterben eben die Liebenden, ganz sanft, ganz zaubervoll…
Und dann ist alles vorbei. Und noch während wir zur Garderobe streben, Leonie ist jetzt ganz müde, donnert es im Saal weiter.
Frenetische Hamburger, verliebt über beide Ohren – ja, so etwas gibt es.
Harald Nicolas Stazol, 26. April 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
CD-Tipp: Magie, Martha Argerich und Maria Solozobova klassik-begeistert.de, 14. Dezember 2023