Titelbild © Teatro alla Scala / Paola Primavera
Teatro alla Scala, Milano
von Andreas Schmidt und Dr. Charles E. Ritterband
Die schlichte klassizistische Fassade der Mailänder Scala mit ihrem kühlen Understatement täuscht. Denn wer den riesigen Zuschauerraum dieses wunderbaren Opernhauses im Herzen der norditalienischen Metropole Mailand betritt, verharrt unwillkürlich in Staunen und Bewunderung: sechs Reihen von Logen erheben sich vom Parkett zur mächtigen, weißen Kuppel, in deren Mitte ein einziger, gigantischer Kristallluster prangt.
Majestätisch inmitten der Logenreihen, zwei Stockwerke hoch, die große, von elegant drapierten Samtvorhängen und zwei Karyatiden umrahmte Königliche Loge. 2030 Plätze fasst der Zuschauerraum, die imposante Bühne ergreift mit ihren schweren Samtvorhängen und dem gekrönten Wappen des Opernhauses, flankiert von zwei mächtigen Säulenpaaren mit reichen Gold-Ornamenten und riesigen, grotesken Fratzen.
Das ursprünglich 1778 eröffnete Haus wurde unter der Regentschaft der österreichischen Kaiserin Maria Theresa an der Stelle der Kirche Santa Maria alla Scala erbaut – damals hatte es über 3000 Sitzplätze. Nach schweren Bombenschäden wurde es am 11. Mai 1946 nach allzu hastig durchgeführten Restaurierungsarbeiten mit einem Konzert unter der Stabführung von Arturo Toscanini, dem Chefdirigenten der Scala, eröffnet.
Die Scala gehört zu den großen, geradezu legendären Opernhäusern der Welt – man betritt den Zuschauerraum mit Ehrfurcht und höchsten Erwartungen, man meint all die großen Sängerinnen und Sänger zu hören, die auf dieser Bühne unsterblich wurden: von Maria Callas über Renata Tebaldi, Mario del Monaco, Giuseppe die Stefano, Luciano Pavarotti bis Placido Domingo. Über der Bühne schwebt der Geist der zahlreichen Opern, die hier ihre Uraufführung erlebten – von Bellinis Norma (1831) über Donizettis Maria Stuarda (1835) bis hin zu Verdis Nabucco (1842), Otello (1887) sowie Puccinis Madama Butterfly (1904) und Turandot (1926).
Eine Premiere an der Scala ist ein Fest der Sinne. Es ist weit mehr als nur eine „First Night Performance” wie an anderen großen Häusern – es ist ein Ereignis von Stil und Eleganz, das die Schickeria, die führenden Repräsentanten der Stadtverwaltung und überhaupt die Oberschicht der norditalienischen Industriemetropole Mailand involviert. Die Verbundenheit des Hauses mit den bedeutendsten Mailänder Familien hat Tradition: Die Logen wurden, um den Neubau im 18. Jahrhundert zu finanzieren, an die wichtigsten und reichsten Familien verkauft und waren fortan deren Eigentum. Die Königsloge, der „Palco Reale”, war Eigentum der Königsfamilie. Weniger betuchte Zuschauer finden Plätze auf der Galerie, „Loggione” genannt. Dort sitzen auch die oft gnadenlosen, schärfsten Kritiker des Geschehens auf der Bühne. So wurde bei einer Vorstellung der „Aida“ im Jahr 2006 der Weltklasse-Tenor Roberto Alagna als Radames von der Bühne gebuht und musste mitten in der Vorstellung durch den eher unbekannten Antonello Palombi ersetzt werden.
Milano ist bekanntlich das Zentrum der italienischen Mode, die sich durch einen extravaganten Chic und Raffinesse auszeichnet, wie sie kaum in Paris, London, Moskau, New York und schon gar nicht in Wien, Berlin oder Hamburg anzutreffen sind. Die Italienerin und der Italiener tragen ihre Mode mit einer Selbstverständlichkeit, als ob sie darin und dafür geboren wären – sie ziehen sich nicht an, sie kleiden sich nicht, sie sind gekleidet – und es sitzt immer makellos.
Die Akustik dieses altehrwürdigen Hauses ist berühmt – eher trocken, aber, wie der erste Violinist des Bayrischen Rundfunkorchesters, Franz Scheurer, nach einem Gastspiel feststellte: „Anders als in anderen Opernhäusern habe ich hier nicht das Gefühl, dass mir der Ton unter dem Instrument weggesaugt wird. Selbst inmitten des Orchesters kann man die eigene Musik deutlich hören, was keineswegs eine Selbstverständlichkeit ist.” Vor 15 Jahren wurden die technischen Bühneneinrichtungen unter Leitung des berühmten Schweizer (Tessiner) Architekten Mario Botta grundlegend erneuert und auch die Akustik revidiert, die sich seither hörbar verbessert hat. Vor allem wurden die schweren roten Teppiche beseitigt, die eine störend dämpfende Wirkung entfaltet hatten. Heute ist die Akustik merklich besser und kristallklar.
Diese großartige Akustik hat uns bei unseren drei Besuchen im Jahr 2018 vollends überzeugt: bei Umberto Giordanos „Andrea Chénier“ am 2. Januar 2018 mit der grandiosen Starbesetzung der Russin Anna Netrebko (Sopran), ihrem aserbaidschanischen Ehemann Yusif Eyvasov (Tenor) und dem Italiener Luca Salsi (Bariton). Es war ein traumhafter Abend in perfekter Vollendung, das Orchestra del Teatro alla Scala spielte wunderbaren Verismo unter der packenden Leitung von Riccardo Chailly.
klassik-begeistert.de schrieb: „Anna Netrebkos Gesang entspannt. Ihre satte, frauliche Tiefe und ihre strahlende Höhe sind vom Piano bis zum Forte gleichermaßen stark; ihr Timbre ist mittlerweile so abgedunkelt, dass es (fast) wie ein Mezzo klingt, ihre strahlenden Spitzentöne sind ungebrochen, ihre Phrasierungen sind traumhaft schön. Gleichzeitig überragt sie alle Darsteller mit ihrer Präsenz. Sie kommt auf die Bühne, und die gehört ihr fast allein. Es gleicht einer Explosion, wenn sie ihre Energie zum Glühen bringt.
Es war auch an diesem Abend überwältigend, wie Anna Netrebko Spitzentöne ansteuerte und dann ein Diminuendo bis fast zur Lautlosigkeit ausformte – das war Stimmkunst in vollendeter Form.
Höhepunkt des Abends war die Arie „La mamma morta“ / „Die Mutter starb“, bei der man eine Stecknadel hätte fallen hören, so leise war es im Saal. Anna Netrebko sang mit ganz viel Gefühl, zum Weinen schön.“
Umberto Giodano, Andrea Chénier, Anna Netrebko, Teatro alla Scala
Auch die beiden Besuche im Oktober 2018, einer wunderbaren Jahreszeit in der 1,4-Millionen-Stadt Mailand, waren musikalisch gesehen herausragend und zeigten, dass an der Scala die Messlatte ganz, ganz hoch hängt: Am 22. Oktober 2018 genossen wir die wunderbare Frühoper „Ernani“ von Giuseppe Verdi – phantastisch in Szene gesetzt vom deutschen Regisseur Sven-Eric Bechtholf. Der ungarische Maestro Ádám Fischer glänzte mit einem ganz feinen, sensiblen Dirigat. Star des Abends war der italienische Tenor Francesco Meli als Bandit Ernani. Bravo! So klingt tenorale Strahlkraft, deren Glanz ihresgleichen sucht. Auch der Italiener Simone Piazzola gab als Don Carlo, König von Spanien, eine prachtvolle Vorstellung. So geht Bariton!
Ein Genuss war auch einen Tag später (23. Oktober 2018) die selten aufgeführte „La finta giardiniera“ (deutsch: Die verstellte Gärtnerin oder Die Gärtnerin aus Liebe) von Wolfgang Amadeus Mozart unter dem feinfühligen Dirigat von Diego Fasolis. Die Musik ließ uns beschwingt in den lauen Mailänder Abend gleiten, wo wir noch eine Pasta und ein Glas Rotwein in einem Restaurant in der wunderschönen Galleria Vittorio Emanuele II zu uns nahmen. Vor allem die leichte, beschwingte und beseelte Stimme der deutschen Sopranistin Hanna-Elisabeth Müller (La Marchesa Violante) hatte uns den Abend versüßt.
Einziger kleiner Minuspunkt in diesem Weltklasseopernhaus mit phantastischen Solisten, feinfühligen Musikern und herausragenden Dirigenten waren an den beiden Abenden im Oktober kleine Teile des Mailänder Publikums. Da sabbelten einige ältere Damen ohne Ende, da spielte eine etwa 70-Jährige permanent mit ihrem Handy, und da gingen 20 Herrschaften ohne Schamgefühl ab eine Stunde vor Ende der Vorstellung nach Hause – auch wenn sie in der Mitte gesessen hatten.
Aber das war unterm Strich unwichtig: Mailand und die Scala sind für jeden Opernliebhaber der Welt ein Pflichtbesuch. Dieses Opernhaus zeigt, was wahre Spitzenklasse und Perfektion sind.
Unbedingt besuchenswert in Mailand ist für Opernfans die Casa Verdi, genau: Casa di Riposo per Musicisti (wörtlich: „Erholungsheim für Musiker“). Die Zeitschrift Brigitte schrieb trefflich: „Für die, die in der Mailänder Casa Verdi leben, ist sie das größte Werk des Komponisten. Ein Altersheim für verarmte Musiker, gestiftet vom Maestro persönlich.
Die Casa Verdi ist für Mailand eine Institution wie die Scala. Jeder weiß, dass dieses Gebäude mit seinen neugotischen Bögen ein Altersheim für Musiker ist – gestiftet von Guiseppe Verdi. Im Jahr 1900 ließ der große Komponist es für bedürftige Musiker erbauen und verfügte in seinem Testament nicht nur, hier an der Seite seiner letzten Ehefrau Giuseppina Strepponi begraben zu werden, sondern auch, der Casa Verdi die Tantiemen seiner Werke zu hinterlassen.“
In den letzten Jahren seines Lebens schrieb Verdi an seinen Freund Giulio Monteverde : „Von allen meinen Werken gefällt mir am meisten die Casa, die ich in Mailand gebaut hatte, um ältere Sänger zu beherbergen, die nicht vom Glück begünstigt wurden oder die in jungen Jahren nicht die Tugend hatten, ihr Geld zu sparen. Arme und liebe Gefährten meines Lebens! “
Die wunderschöne Grabstätte des Jahrtausendkomponisten ist ebenso magisch wie das große Teatro alla Scala.
Andreas Schmidt und Dr. Charles Ritterband, 21. April 2019, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Was haben denn die beiden Karyatiden zu den beiden Herren Redakteuren gesagt? Haben Sie gefragt, warum sie so mutig mit den Fremdwörtern umgehen?
Peter Skorepa