Photo: Cory Weaver/San Francisco Opera
Mit der kaum gespielten, doch brillant komponierten und hochaktuell mahnenden Oper The Handmaids Tale gelingt der San Francisco Opera ein künstlerischer Paukenschlag für die ganze Opernwelt. Allen voran brillierte die Mezzosopranistin Irene Roberts in der Hauptrolle Offred und brachte dem Publikum mit allen Emotionen kaum noch dyspotische Erzählung zu Ohren!
San Francisco Opera, 17. September 2024
The Handmaid’s Tale
Musik von Poul Ruders
Libretto von Paul Bentley nach dem Roman von Margaret Atwood
von Johannes Karl Fischer
Auf der Bühne spielt das Jahr 2030. Die ehemaligen USA sind nun eine christlich-theokratische Diktatur, die als „Handmaids“ bezeichneten Frauen werden in Indoktrinationszentren gezwungen, Kinder für die herrschende Elite zu gebären. Abtreibung, Ehebruch, Scheidung, unter Todesstrafe verboten. Ob ich diese Handlung wirklich als dystopisch bezeichnen kann – ich weiß es nicht. Da stecken einfach zu viele Parallelen zu den Entwicklungen der heutigen Zeit drin. Naja gut, die Schlussszene von Alban Bergs Wozzeck hat vor dem Geschehen in den 20 Jahren nach dessen Premiere 1925 auch noch einiges an Bedeutung hinzugewonnen.
Egal, hier gilt’s der Kunst. Noch nie hat eine moderne Oper dem Publikum eine dermaßen gelungene, musikalisch wie szenisch packende Mahnung auf den Tisch gelegt! Maßgeblich verantwortlich für diesen musikalischen Paukenschlag war Irene Roberts, Ensemblesängerin an der Deutschen Oper Berlin, die mit ihrem packenden Mezzosopran die Hauptrolle Offred meisterhaft wie mühelos erledigte.
Von Anfang bis Ende erzählt das Werk Offreds Geschichte, von Anfang bis Ende versetzte Frau Roberts musikalische scheinbar unermüdlich das Publikum in die intensivsten aller Emotionen. Ihr Kind aus der vor-Theokratie-Zeit, entrissen, ihr damaliger, von ihr innig geliebter Ehemann, von der Grenzpolizei bei einem familiären Fluchtversuch verhaftet und verschollen. Man spürt ihre Qualen und ihre Furcht in tiefstem Herzen, wenn sie scheinbar mühelos und erschreckend natürlich zwischen den Erinnerungen an ihre überglückliche Liebe und den menschenverachtenden Zuständen dieser theokratischen Diktatur im Handumdrehen hin und her wechseln.
Auch Simone McIntosh als Offreds Double aus der Vor-Diktatur-Zeit stand Frau Roberts um nichts nach, das Duett zwischen der alten und jungen Protagonistin wirkte wie eine gesangliches Olympiafinale auf Augenhöhe!
Mit kraftvoller, donnernder Stimme jagte Sarah Cambridges Aunt Lydia – Abteilungsleiterin von Offreds Indoktrinationszentrum – die volle Angst dieser dystopischen Zukunftsvision in die Ohren des Publikums. Wie eine donnernde, selbst von den Zwängen dieser patriarchalischen Diktatur getriebene Kommandeurin rezitierte sie die neuen Gebote der Gesellschaft „Thou shall not divorce“ (du sollst dich nicht scheiden), „Thou shall not commit adultery“ (du sollst nicht Ehe brechen), the list goes on.
Luke (Christopher Oglesby) – Offreds Ehemann aus der Vor-Diktatur-Zeit – schien das Leben in Freiheit in vollen Zügen zu genießen, sein brillanter, freudestrahlender Tenor überzeugte auf ganzer Linie. In der Oper verschwindet er ebenso spurlos wie er aus Offreds Leben gerissen wird.
Einzig John Relyea als Commander von Offreds Indoktrinationszentrum schien mir stimmlich nicht ganz mit der Macht seiner Rollen mithalten zu können. Zwar traf er alle Noten blitzeblank sauber, die Zähne dieses handlungstechnischen Tigers – skrupellos nutzt er seine Handmaids aus – waren mindestens nicht sehr scharf. Die sehr zahlreichen kleineren Rollen waren quer durch die Bank zumindest rollengerecht besetzt, eine Meisterleistung für ein Haus, das in der Vergangenheit trotz großer Namen immer wieder durch Fehlbesetzungen in kleinen wie großen Rollen aufgefallen ist.
Eine weitere Leuchtturmleistung kam aus dem Graben. Mit messerscharfer Präzision kurbelte die Dirigentin Karen Kamensek zweieinhalb Stunden stets die Spannung aus dem Chor und Orchester der San Francisco Opera an. Scheinbar harmlos – wir erzählen nur eine Geschichte – stimmten die Eröffnungsklänge auf den Beginn der Oper ein, doch die teils erkennbar religiös gefärbten Motive wirkten im Laufe des Abends immer drohender. Auch das Orchester sprang mühelos zwischen dem freudigen Spaß der freien Vor-Diktatur-Zeit und dem gespenstisch schwebenden Klängen der neuen Theokratie umher.
Die symbolträchtige, zugängliche Regie von John Fulljames erfüllte voll und ganz ihren Zweck. Ein symbolisches Auge erinnerte an die totale Überwachung dieser diktatorischen Theokratie, die in dieser Gesellschaft alltäglichen öffentlichen Hinrichtungen mahnten das Publikum mit ihrer Präsenz doch gänzlich ohne überzogene Gewalt. Unschön, doch nicht präzedenzlos.
Mit dieser kaum bekannten Oper aus dem Jahr 1998 gelingt der San Francisco Opera ein szenischer wie musikalischer Paukenschlag. Angesichts der brennenden Aktualität – längst nicht nur in den USA – wie meisterhaft genialen und fordernden Partitur wäre es wünschenswert, dieses Werk jenseits der einst mit Namen wie Kurt Moll, Plácido Domingo und Anna Netrebko geschmückten San Francisco Opera nicht an Mini-Häuser wie das Theater Freiburg abzukommandieren.
Johannes Karl Fischer, 22. September 2024 für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Richard Strauss, Die Frau ohne Schatten San Francisco Opera, 4. Juni 2023
Johannes Karl Fischer im Interview mit Ádám Fischer – Teil 2 klassik-begeistert.de, 27. April 2024