Nicht menschlich: Kanadier begeistern mit Choreographie- und Tanzkunst bei den Ballett-Tagen Hamburg

The National Ballet of Canada, Choreografien von Robert Binet, James Kudelka und Crystal Pite,  Staatsoper Hamburg

Foto: Zinger/hfr
Staatsoper Hamburg, 4. Juli 2018

The National Ballet of Canada
Mit Choreografien von Robert Binet, James Kudelka und Crystal Pite
THE DREAMERS EVER LEAVE YOU
Musik: Lubomyr Melnyk
Konzept und Choreografie: Robert Binet
Kostüme: Robyn Clarke
Licht: Simon Rossiter
THE MAN IN BLACK
Musik: Johnny Cash
Choreografie: James Kudelka
Kostüme: Jim Searle und Chris Tyrell for Hoax Couture
Licht: Trad A Burns
EMERGENCE
Musik: Owen Belton
Choreografie: Crystal Pite
Bühnenbild: Jay Gower Taylor
Kostüme: Linda Chow
Licht: Alan Brodie

von Sebastian Koik

 Zum Schluss gibt es eine Ballett-Sensation, ein perfektes außerirdisches Tanzstück!

Doch eins nach dem anderen: Auf dem Programm zu den Hamburger Ballett-Tagen in der Staatsoper stehen drei Werke kanadischer Choreografen. Den Reigen eröffnet ein Stück des 1991 geborenen Choreografen Robert Binet.

„The Dreamers Ever Leave You“ ist Robert Binets in Tanz umgesetzte Reaktion auf die Gemälde des kanadischen Künstlers Lawren Harris, der Kanadas nördliche Landschaften einfing. Das Stück lebt von der Musik. Die auf- und abwogende Minimal-Musik kommt vom ukrainisch-kanadischen Künstler Lubomyr Melnyk, die dieser persönlich vor der Bühne am Flügel spielt. Seine Musik bezeichnet er als  „Continuous Music“, sein sehr schnelles Klavierspiel ist hoch präzise und musikalisch. Die einzelnen Töne erklingen geschliffen wie Diamanten.

Die stark repetetive Musik, die sich langsam wandelt, erinnert stark an Minimal Music, besonders an die von Steve Reich. Die Musik hat etwas sehr Entspannendes, fast Hypnotisches, entführt in Traumwelten und verleiht geistig Flügel. Diese Musik ist sicher für manche im Publikum eine schöne Entdeckung, doch die Choreografie selbst wirkt etwas belanglos. Im Stück bewegen sich die Tänzer vor wechselnden Silhouetten von Bergen und Tälern, Lichtfarben und -stimmungen ändern sich und mit ihnen der Charakter des Tanzes. Doch das Stück selbst plätschert gewissermaßen vor sich hin und wird den meisten nicht wirklich viel sagen.

Das zweite Stück des Abends widmet sich Johnny Cash, dem US-amerikanischen Sänger und Songschreiber, der auch als „The Man in Black“ bekannt ist, und der mit über 90 Millionen Platten einer der meistverkauften Musiker überhaupt war. Zu sechs Klassikern des 2003 verstorbenen Countrystars Cash tanzen drei Männer und eine Frau in Wildwest-Kostümen und Cowboystiefeln. Oft mit beiden Händen seitlich am Gürtel gibt es tänzerische Anleihen bei Line-Dance, Square-Dance, Lord-of-the-Dance. Ja, mit den schweren Schuhen steppen die Cowboy-Tänzer sogar, und man fühlt sich in einen Saloon versetz, wenn plötzlich Cancan getanzt wird.

James Kudelkas „Man in Black“ ist ein sehr charmantes und pfiffig-frivoles Stück mit viel Witz, das den starken vier Tänzern und dem Publikum großen Spaß macht. Mit dieser schönen Hommage an Johnny Cash bringen die Gäste viel Folklore aus ihrem Kontinent mit. Die Kanadier präsentieren die ungewöhnlichen Schritte und Bewertungen mit einer großen Leichtigkeit, besonders die erste Solistin Jenna Savella bezaubert mit einem ganz und gar neckischen Auftritt bei gleichzeitig beeindruckender Technik.

Und dann gibt es ein unvergessliches Ballett-Spektakel: „Emergence“ von Crystal Pite! Allein schon der elektronische Soundtrack zu dem Stück von Owen Belton beeindruckt mit sphärischen Klängen, mächtigem und bedrohlichem Bass und körperlich anfassender Atmosphäre. Allein schon die Musik erschafft eine Welt, und zusammen mit unfassbar vielen noch nie zuvor gesehenen Bewegungen der genialen Choreografin wird das Ganze trotz spärlichem aber vollkommen ausreichendem Bühnenbild zu einer phantastischen Reise in eine andere Welt und zu einem Gesamtkunstwerk.

Die Tänzer bewegen sich im ganzen Stück nie wie Menschen. Dafür kommen dem Zuschauer Dutzende andere Bilder: Fledermäuse, Spinnen, Kakerlaken, Bienen, andere Insekten, Alien-Krieger, mutierte Zwischenwesen. Die Choreografie ist wahnsinnig kraftvoll, voller Leben, Natürlichkeit, Esprit und Leichtigkeit. Fast immer sind sehr, sehr viele Tänzer auf der Bühne, ein Schwarm oder eine Armee von Wesen, es werden sehr viele, sehr schnelle Bewegungen ausgeführt und die Synchronizität des Ensembles ist atemberaubend. Es gibt wundervolle Soli zu sehen, und die ganze große, technisch sehr anspruchsvolle Choreografie wird in Perfektion getanzt. Die Spannung während des langen Stückes ist gewaltig, sie raubt einem geradezu den Atem. Man sitzt auf der Stuhlkante und wohnt einem Ballettwunder bei. Es ist ein unvergessliches Ballett-Erlebnis. Dass man sich so sehr und so ganzheitlich von einem Ballett in eine so fremde Welt entführt fühlt, ist eine unfassbar starke Leistung der Kanadierin Crystal Pite und ihrer wunderbaren Tänzer. Der Jubel des Publikums ist urgewaltig und will nicht enden.

Das Hamburg Ballett und The National Ballet of Canada verbindet eine Freundschaft, die bis Anfang der 1970er-Jahre zurückreicht. Karen Kain war Weltklasse-Tänzerin und wurde zur Direktorin des National Ballet of Canada – und sie ist eine langjährige Freundin von John Neumeier. Bereits zum dritten Mal sind die Kanadier die Gastkompagnie zu den Ballett-Tagen. Wie sehr Hamburg und das National Ballet verbunden sind, zeigt sich auch daran, dass die Gäste aus Toronto regelmäßig Neumeier-Stücke aufführen. Im November werden sie Neumeiers „Anna Karenina“ tanzen. Und im letzten Jahr spielten sie Neumeiers „Nijinsky“ in Paris, wofür sie von einer großen französischen Kritikervereinigung prompt zur Kompagnie des Jahres ausgezeichnet wurden. Der künstlerische Austausch zwischen Kanada und Deutschland, Toronto und Hamburg funktioniert prächtig.

Sebastian Koik, 21. Juli 2018
für klassik-begeistert.de

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