Foto: Thomas 2022 H. Falk © W. Hösl
Utopia, München, 23. Mai 2022
Thomas von Georg Friedrich Haas und Madrigal Lamento d’Arianna von Claudio Monteverdi
Münchner Kammerorchester
Alexandre Bloch, Dirigent
von Frank Heublein
An diesem Abend wird in der Münchner „off broadway“ Bühne des Utopia im Rahmen des „Ja, Mai-Das Festival 2022“ der Bayerischen Staatsoper Thomas von Georg Friedrich Haas in München erstmals aufgeführt. Die Kammeroper wird kombiniert mit dem Madrigal Lamento d’Arianna von Claudio Monteverdi.
Ich trete aus dem Utopia Gebäude. Es ist dunkel. Die Luft, nach einem Gewitter, ist fantastisch rein. Ich ziehe in tiefen Zügen diese wunderbare Luft in mich hinein. Ich spüre dieses Atmen sehr besonders.
Denn bereits im Suchen nach meinem Platz höre ich Atmen. Schweres Atmen. Irgendwann später steigt ein Mann den Mittelgang herab. Suchend. Verzweifelter Blick. Mit Mikroport. Es ist Thomas. Das Atmen ist das von Matthias. Seinem Mann. Er liegt im Sterben. Mitten auf der Bühne ist ein riesengroßes Ei – sechs Meter breit und drei Meter hoch – auf dem wird ein schlagendes Herz projiziert. Das Herz des Matthias.
Die zarten Töne des Orchesters am Anfang erahne ich, höre ich kaum. Denn das Trommeln der Gewitterregentropfen auf das Dach der Utopiahalle, das Rumpeln des Gewitters sind lauter, machen die Szene düsterer. Ich sehe den Dirigenten, der über Monitore sichtbar gemacht wird. Wo eigentlich ist das Orchester? frage ich mich blitzlichtartig, bevor mich die Handlung wieder voll umfängt. Das pochende Herz, die Ausweglosigkeit in Thomas Gesang.
Thomas erlebt das Sterben seiner Liebe. Er kann es nicht fassen, eine überbordende Trauer. Der liebe- und würdevolle Umgang mit dem toten Körper – den ich nie sehe. Thomas spielt stattdessen Matthias Körper. Der Sänger-Schauspieler macht auf der Bühne, was die Figur Thomas mit Herz und Hirn gerne täte: in Matthias hineinschlüpfen, ihn lebendig machen.
Die Besonderheit des Librettos liegt darin, dass die Sätze von unterschiedlichen Sängern und Sängerinnen gemeinsam konstruiert, gewoben, gestrickt, gedacht, gespürt werden. Diese Konstruktion des Librettos erhöht die Intensität unermesslich, zieht mich in die Handlung stark hinein. Zudem wird dadurch auffällig, wenn eine Stimme langandauernd ununterbrochen singt.
Thomas wird gesungen von Baßbariton Holger Falk. Er ist ständig auf der Bühne. Er hat eine mich ergreifende Emotionalität in seiner Stimme. Seine Präsenz macht seinen Schmerz für mich körperlich spürbar. Am Ende des ersten Teils, in dem Matthias stirbt und sein Körper gewaschen wird, singt Thomas die Arie „Wir sind allein. Ich bin allein mit Dir Matthias“. Thomas krümmt sich vor Schmerz. Die Arie endet mit den Worten „Verzeih mir, dass ich leben muß. Ich begreife, dass du tot bist. O da liegst Du. O dein Körper.“ Das endgültige Alleinsein. Für seine unglaubliche Leistung wird er auch von mir am Ende der Oper mit Jubelrufen gefeiert.
Bestatterin Frau Fink tritt auf. Sie wird gesungen von Sopranistin Hélène Fauchère. Ihr Auftritt über den Mittelgang zelebriert und dehnt sie. Die Worte „Thomas. Meine Anteilnahme.“ sind eine gefühlt fünfminütige barockhafte Arie in der Wiederholung dieser drei Worte mit immer wieder neuen stimmlichen Verzierungen in der höchsten hellsten Tonlage. Sie empfinde ich von Anfang an als Eindringling. Nachdem ich den liebe- und respektvollen Umgang mit Matthias Körper miterlebt habe, benutzt Frau Fink ebendiesen. Frau Fink ist ich fixiert. Sie lässt alles um sich kreisen. So wirkt ihre Anteilnahme aufgesetzt, ihre Handlungen wirken übergriffig. Erst als sie körperlichen Kontakt zu Thomas sucht, „Ich möchte Sie trösten“, schafft Thomas sie abzuwehren. Es wirkt aggressiv, doch für mich ist es eine verzweifelte Kraftanstrengung. Denn woher soll Thomas Kraft nehmen? Klirrend klar, hell, bestimmend singt Hélène Fauchère.
Wieder allein erscheint Thomas Matthias. Gesungen vom Bass Konstantin Krimmel. Ist es eine Wahnvorstellung? Ich finde es unheimlich, denn ich sehe, wie Thomas auch, Matthias. Ich weiß genauso wenig wie Thomas mit der Situation umzugehen. Er will daran glauben, dass Matthias lebt. Er bestellt beim Pfleger Michael Suppe für zwei.
Das Liebespaar ist gesetzt in tiefe Männerstimmen. Diesen werden ausschließlich hohe Stimmen gegenübergestellt. Tenöre, Countertenöre, Soprane. Die strukturelle musikalische Distanz wirkt in mich hinein. Gefühle, die keiner wirklich verstehen kann, der nicht genau und jetzt in dieser Situation ist, werden ausgedrückt in der stimmlichen Distanz. Pfleger und Ärzte sind respektvoll. Frau Fink ist übergriffig, indem sie glaubt, in diesen emotionalen Raum von Thomas und Matthias eindringen zu können. Alle Stimmen singen für mich auf höchstem Niveau. Zu Recht wird das gesamte Ensemble am Ende intensiv beklatscht.
In einem Deus ex machina Effekt öffnet sich das Ei. Pfleger Michael als Engel – in der christlichen Kirche ist er der Seelenwäger – von Rauch umwölkt bringt die Suppe. Im Ei sehe ich Dirigent, die Musiker und Musikerinnen. Wie eng! Auf zwei Stockwerken verteilt oben das Schlagwerk, unten die gezupften Instrumente Cembalo, Gitarren, Mandoline, Harfe und Zither. Dazu ein Akkordeon. „Es schmeckt so gut“ und „Lass uns schlürfen“ singt Thomas. Ich sehe – endlich – die zupfenden Glissando Töne produzierenden Gitarren und die Mandoline. Die Musik stützt und verstärkt die Emotion der Sänger und Sängerinnen. Das „im-Ei-Sein“, das Nicht-im-Blick-Sein verstehe ich als eben jenes Zurücktreten hinter die Handlung, hinter die Trauerarbeit von Thomas. Welch eindrückliche musikalische Verstärkung der Gefühle gelingt dem Münchner Kammerorchester unter Alexandre Bloch.
Mit dem Ende der Oper öffnet sich die Rückseite des Eis und auch die weiße Wand dahinter. Ein Lichtstrahl blendet mich. Das fünfköpfige Ensemble InVocare singt das Madrigal Lamento d’Arianna von Monteverdi. Jedem Menschen steht der Übertritt von Leben zum Tod bevor. Die Worte „Lasst mich sterben, / Und wer denn sollte mich auch trösten / in einem so großen Martyrium? / Lasst mich sterben.“ Dieser zarte, klare, reine Gesang! Die Worte fassen mich an. Die Geistgestalt des Matthias wandert durch das Ei gegen das Licht.
Ich bin den Tränen nahe. Denn die Freiheit, den Tod eines geliebten Menschen zu akzeptieren, liegt in diesen Worten: „Lasst mich sterben“. Was ich heute gesehen, gehört und empfunden habe, erhebt mich. Würdevolles Sterben. So geht es. Das wünsche ich mir. Ich atme die vom Gewitter gereinigte Luft tief in mich hinein.
Frank Heublein, 24. Mai 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Programm
Thomas (Uraufführung 2012) von Georg Friedrich Haas, Libretto Händl Klaus
Lamento d’Arianna (Madrigali, Libro sesto 1614) von Claudio Monteverdi
Besetzung
Inszenierung Anna-Sophie Mahler
Bühne Katrin Connan
Kostüme Pascale Martin
Licht Benedikt Zehm
Video Georg Lendorff
Klangregie Zoro Babel
Dramaturgie Corinna Jarosch, Katharina Ortmann
Thomas Holger Falk
Matthias Konstantin Krimmel
Michael Randall Scotting
Dr. Dürer Rupert Enticknap
Dominik Caspar Singh
Schwester Agnes Yajie Zhang
Schwester Jasmin Jessica Niles
Frau Fink von der Bestattung Hélène Fauchère
Lamento d’Arianna (gekürzt)
InVocare: Charlotte Nachtsheim, Mirjam Striegel, Stefan Steinemann, Matthias Deger, Valerio Zanolli
Bluthaus, Friedrich Georg Haas, Claudio Monteverdi Cuvilliés-Theater, München, 21. Mai 2022
Les Troyens, Hector Berlioz, Bayerische Staatsoper, München, 09. Mai 2022 PREMIERE