Foto: Wiener Singakademie © Nini Tschavoll
Wiener Konzerthaus, Großer Saal, 3. November 2019
Tonkünstler-Orchester Niederösterreich
Wiener Singakademie
Lydia Teuscher, Sopran
Theresa Kronthaler, Mezzosopran
Ilker Arcayürek, Tenor
Josef Wagner, Bass
Heinz Ferlesch, Dirigent
von Jürgen Pathy
„Die Musik lehrt uns, dass hinter der sichtbaren Welt noch eine Unsichtbare existiert. Das spüren alle, wenn sie das Mozart Requiem hören“, schildert Heinz Ferlesch, 48, der seit 1998 die Wiener Singakademie leitet. Am Erfolg dieses 1858 gegründeten Klangkörpers der Wiener Konzerthausgesellschaft ist der Oberösterreicher wesentlich beteiligt. Unter seiner Leitung gastierte der Chor Sonntagabend im Großen Saal des Wiener Konzerthaus.
Mit im Gepäck, zwei Werke, die unmittelbar mit der Geschichte des Chors in Verbindung stehen – neben dem populären Mozart Requiem Joseph Haydns sogenannte „Nelson Messe“, um deren Namensgebung ebenso zahlreiche Mythen und Geschichten ranken, wie um Mozarts Totenmesse. Bereits bei der Erstaufführung beider Messen im Wiener Konzerthaus war die Wiener Singakademie dabei gewesen. Einige Jahrzehnte und rund 70 Aufführungen später haben sich die Gemeinsamkeiten damit jedoch beinahe erledigt.
Obwohl beide Messen in d-Moll stehen, einer Tonart, deren Charakter als kläglich, jenseitig und traurig beschrieben wird, unterscheiden sich die Interpretationen an diesem Abend erheblich. Während Joseph Haydns „Nelson Messe“, die 1798 in Eisenstadt uraufgeführt wurde, in einer von Innigkeit und Ergriffenheit erfüllten Charakters erklingt, offenbart sich das Mozart Requiem in bisher ungeahnter Weise. In der Fassung von Franz Xaver Süßmayr, der nach Mozarts Tod das Auftragswerk vollendete, klingt das Sakralwerk nicht jenseitig und tröstend, sondern voller Gleichgültigkeit, teils Zorn.
Im Lacrimosa, in dem Ferlesch viel vom Verdi Requiem entdeckt, finden die Sünder kein Erbarmen und keine ew’ge Ruh. Im Diese irae, dem Tag des Zornes und der Sünden, erheben sich keine Energien und Urgewalten, um das Weltall zu entzünden. Und anstatt der königlichen Herrlichkeit, wie im Domine Jesu Christie geschrieben steht, herrscht über weite Strecken gemütliche Gleichgültigkeit. Zum Glück erschüttern einzelne Musiker des Tonkünstler-Orchesters regelmäßig den Saal, wie im Posaunensolo des Tuba mirum, das dem Herrn geschmeidig über die Lippen gleitet und von Bassbariton Josef Wagner imposant verkündet wird. Ilker Arcayürek, in Istanbul geboren und in Wien aufgewachsen, verkündet in glasklarem Glanz „Mors stupebit et natura „, und die hochschwangere Konzertmeisterin und ihr Gefolge lichten doch noch das Verborgene hinter der Musik.
Völlig anders die Atmosphäre während der „Nelson Messe“, die vor der Pause auf dem Programm steht. Von Joseph Haydn noch als „Messe in der Bedrängnis“ notiert, weisen viele düstere, aber ebenso erhellende und tröstende Momente den Weg zu Gott. Sanft gebettet von himmlischen Klängen des Horns, der Trompete und des Cellos stimmen die Damen und Herren der Wiener Singakademie das Sanctus an. Innig und beflügelt verkündet Lydia Teuscher mit lyrisch-dramatischer Feinheit das „Et incarnatus est“. Und die Konzerthaus-Debütantin Theresa Kronthaler bittet im Agnus Dei mit derart herzergreifendem Mezzo um die Vergebung unserer Sünden, dass selbst der Allmächtige dem Gnadengesuch bestimmt nicht widerstehen kann.
Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 5. November 2019, für klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Joseph Haydn
Messe d-Moll Hob. XXII/11 »Nelson-Messe« (1798)
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Wolfgang Amadeus Mozart
Requiem d-Moll K 626 (1791)
„Die Musik lehrt uns, dass hinter der sichtbaren Welt noch eine unsichtbare existiert.“ Dieser, mir bis heute unbekannte Satz von Heinz Ferlesch, wird in meiner Sprüchesammlung Eingang finden.
Aufführungen von Messen in Konzertsälen wirken wie Ikonen in Museen. Aber sowohl das Verdi Requiem als auch die Glagolithische Messe des mährischen Meisters passen nicht in die Liturgie.
Lothar Schweitzer