Semyon Bychkov conducts the Czech Philharmonic © Marco Borggreve for the Czech Philharmonic
Das Spitzenorchester aus Prag beweist einmal mehr seine Klasse und verdient sich stehende Ovationen.
Robert Schumann (1810-1856) – Klavierkonzert a-Moll op. 54
Dmitri Schostakowitsch (1906-1975) – Sinfonie Nr. 11 op. 103, „Das Jahr 1905“
Tschechische Philharmonie
Víkingur Ólafsson, Klavier
Semyon Bychkov, Dirigent
Kölner Philharmonie, 24. Oktober 2022
von Brian Cooper, Bonn
Nur wenige Dirigenten sind wohl öfter den Weg vom Künstlerzimmer bis zur Bühne der Kölner Philharmonie gegangen als Semyon Bychkov. In Köln ist er alles Andere als unbekannt, war er doch von 1997 bis 2010 Chefdirigent des WDR-Sinfonieorchesters (WDRSO). Und doch brachte er beim Gastspiel der Tschechischen Philharmonie sein eigenes Podest mit. Vielleicht hat er dasselbe Problem wie ich, bekommt beim Berühren von Metall zuverlässig eine gewischt und bevorzugt daher ein Podest aus Holz…
Merkwürdigerweise habe ich diese Kölner Ära nie so richtig zu schätzen gewusst, was natürlich nur an mir liegt, und von einer Ära darf man bei 13 Jahren Amtszeit getrost sprechen. Der vor zehn Jahren viel zu früh verstorbene Tony Duggan, der sich wie kaum ein Anderer mit Mahler-Einspielungen auskannte, hob die Aufnahme der Dritten des WDRSO unter Bychkov (2003 bei AVIE erschienen) in den Olymp der besten Aufnahmen dieses Werks aller Zeiten.
Anfang Februar 2015 dirigierte Bychkov in Amsterdam eine Alpensinfonie, die mir bis heute unvergessen bleibt. In Erinnerung bleibt mir paradoxerweise auch – vor allem – ein Kölner Gastspiel der Staatskapelle Dresden, die unter Bychkovs Leitung eine fulminante Lady Macbeth von Mzensk von Schostakowitsch konzertant aufführte. (Kurzer Blick ins Archiv, schon damals sammelte ich Programmhefte: 16. Dezember 2000, Block A, Reihe 16, 83 Mark, war wohl ein vorgezogenes Weihnachtsgeschenk, es sangen unter Anderem Evelyn Herlitzius und, in einer kleinen Nebenrolle (!), ein gewisser Klaus Florian Vogt…)
Und da sind wir auch schon beim Leib- und Magenkomponisten des gebürtigen Petersburger Dirigenten (1952 hieß die Stadt noch Leningrad), der mit zunehmendem Alter immer besser zu werden scheint. Es gibt allerdings auch aus der früheren Zeit hervorragende Aufnahmen bei Philips, etwa die Fünfte vom Mai 1986 mit den Berliner Philharmonikern. Auch die Achte und Elfte hat er mit den Berlinern eingespielt. Und zumal nach dem Tod von Bernard Haitink und Mariss Jansons dürfte Semyon Bychkov unbestritten zu den wichtigsten Schostakowitsch-Dirigenten unserer Zeit gehören.
In Köln nun standen die 11. Sinfonie des Russen und das Klavierkonzert von Schumann auf dem Programm. Und es wurde ein großer Abend. Glücklicherweise bleiben wir bislang von dem Blödsinn verschont, aufgrund des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine keine russischen Komponisten aufzuführen. Die Elfte passt nämlich hervorragend in diese Zeit.
Die Tschechische Philharmonie ist ein Orchester von erlesener Güte, das durch einen enormen Wohlklang besticht, in den es sein Publikum geradezu bettet. 2010 wurden die Tschechen in der Gramophone-Kritikerumfrage völlig zu Recht unter die besten 20 Orchester der Welt gewählt. Dieses Ranking liegt mir einigermaßen am Herzen, da es mit meinen persönlichen Top 4 koinzidierte. Auch wenn ich sonst nicht sonderlich viel auf Ranglisten gebe, aber das nur nebenbei.
Auch heute noch gehört das Orchester aus Prag zur Spitzenklasse, und vor allem die unfassbar warm spielenden Holzbläser werden noch immer zu Recht gerühmt. Aber unter dem Eindruck des Kölner Konzerts verbietet es sich im Grunde, eine Instrumentengruppe hervorzuheben. Sie alle waren fabelhaft. Ich hatte sie lange nicht gehört, es war höchste Zeit geworden.
Der isländische Pianist Víkingur Ólafsson, der jüngst in Essen das – auf CDs gern mit Schumann gekoppelte – Klavierkonzert von Grieg gespielt hatte, bewies einmal mehr seine ihm gänzlich eigene Form der Klangkunst. Besonders an lauteren Stellen fiel auf, dass das Orchester insgesamt eine Tendenz zum mezzopiano beibehalten hatte. Ungewohnt, aber schlüssig. Es wurde unaufgeregt und völlig unroutiniert musiziert, was in Tourneezeiten durchaus hervorzuheben ist.
Das perlte daher umso mehr beim Solisten; manchmal geriet Einiges für meinen Geschmack etwas zu pedallastig, aber das ist Jammern auf höchstem Niveau. Ólafsson ist ein Pianist, dem man gern zuhört, die Hände fliegen kontrolliert über die Tasten, er hat uns viel zu sagen, sein Spiel ist geradezu aristokratisch (dieses Wort geisterte mir während der Darbietung durch den Kopf), und die Zugabe, eine Bach-Transkription, war ganz, ganz groß. Die Dame vor mir studierte derweil intensiv die Rückseite des Programmhefts – eine Sparkassen-Werbung mit dem Slogan „Genießen, was Freude macht“.
Die Elfte Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch ist ein Monstrum von einem Werk, eine einstündige, akustisch sehr plastische Darstellung des Massakers russischer Gardetruppen an unbewaffneten Arbeitern am sogenannten Petersburger Blutsonntag im Januar 1905. Viele halten sie für ein nicht besonders gutes Stück, tun sie gar als banale Filmmusik ab, und sie wird verhältnismäßig selten aufgeführt. Für mich ist sie ein Meisterwerk, geistesverwandt und gleichrangig mit der Achten (und das beileibe nicht nur wegen des Englischhorn-Solos).
In der CD-Besprechung einer meiner Lieblingsaufnahmen (LSO/Rostropowitsch, erschienen bei LSO Live) schreibt der Rezensent, nur ein wirklich großes Orchester – groß im Sinne von Qualität, nicht Besetzung – könne pianissimi spielen „with the ghostly restlessness we hear in the opening movement“.
Gespenstische Unrast gefällt mir gut als Beschreibung des Kopfsatzes, und die Tschechische Philharmonie erwies sich nicht nur hier eben als wahrhaft großes Orchester. Das ist zutiefst bedrohlich, was da abgeht, nicht zuletzt im Schlagwerk, und hier besonders anschaulich bei der snare drum. Unheil steht unmittelbar bevor.
Das Faszinierende an diesem Stück ist, dass man es eigentlich nur im Konzertsaal hören kann – es sei denn, man hat sehr wohlwollende Nachbarn und eine fantastische Stereoanlage. Denn man muss es laut hören, es deckt die gesamte Bandbreite zwischen extrem leisen Stellen und vierfachem forte ab.
Nun gehört angemessenes Verhalten an leisen Stellen üblicherweise nicht zu den Kernkompetenzen des Kölner Publikums, doch hier erwies es sich als gewillt, im besten Sinne an der Aufführung „mitzuwirken“. Die kaum hörbaren pizzicati der acht Kontrabässe im dritten Satz beispielsweise wurden durch keinen einzigen Huster getrübt. Und selbst am Ende, als die Glocken ausklangen bzw. abgedämpft wurden, blieb es im Saal still. Kollektive Erschütterung ob einer solch grandiosen Aufführung potenziert noch einmal die grandiose Wirkung der soeben verklungenen Musik. Wer da nicht mit geballten Fäusten in seinem Sitz festklebt, ob der soeben dargestellten haarsträubenden Gewalt, ob dieser Ungerechtigkeit, dieses Vergehens an Menschen, hat ein Herz aus Stein. Stehende Ovationen.
Über das Thema „letzter Glockenschlag“ ließe sich eine ganze Dissertation verfassen – und sie wäre aufregender und polarisierender, als es den Anschein hat! Aus der Partitur ist meines Wissens nicht ersichtlich, was Schostakowitsch wollte. Viele Dirigenten lassen die Tocsin-Glocken abwürgen; Rostropowitsch lässt sie ausschwingen, was eine einigermaßen erschütternde Wirkung hat und zudem Stille und Disziplin im Publikum geradezu forciert. Was am Montag in Köln geschah, hatte ich noch nie erlebt: Der Glockenmann deutete ganz zum Ende auf den vier Glocken ein Thema aus dem Kopfsatz an. Genial. Falls das so in der Partitur steht, habe ich es noch nie vorher wahrgenommen.
Am Liebsten würde ich das Ganze 48 Stunden später noch einmal in Essen hören, aber in diesen schlimmen Zeiten brauche ich nicht nur solche Musik, sondern auch ab und an mal Kleinkunst. Jet ze laache, wie man im Rheinland sagt. Und im Bonner Pantheon ist’s auch schön. Da spielen ja neuerdings auch bisweilen Weltklasse-Orchester, zumindest während des Beethovenfests.
Dr. Brian Cooper, 25. Oktober 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
W.A. Mozart, Gustav Mahler, Gürzenich-Orchester Köln Kölner Philharmonie, 18. Oktober 2022
WDR Sinfonieorchester Cristian Măcelaru, Dirigent, Karen Gomyo Kölner Philharmonie, 10. Juni 2022
Ach, wie spannend – da sind wir ja in demselben Konzert gewesen und haben sogar ähnliche Eindrücke mitgenommen:
https://klassik-begeistert.de/tschechische-philharmonie-vikingur-olafsson-klavier-semyon-bychkov-dirigent-koelner-philharmonie-24-oktober-2022/
Ich teile diese Meinung ja total, dass es sehr gut ist, wie wir in Köln bisher von dieser schwierigen Tendenz zur Russland-Zensur verschont bleiben. Gerade jetzt sollte man doch eben nicht alles über einen Kamm scheren, sondern aufgeklärt an die Sache rangehen und die entsprechenden Komponisten im Kontext ihres Lebenswerks und nicht nach ihrer Nationalität beurteilen. Gerade auch ein Werk wie die Elfte von Schostakowitsch hat heute umso größere Aktualität… genauso, wie dessen Vierte, Fünfte, Achte und Zehnte.
Daniel Janz