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Vor allem eines lässt sich nach diesem fulminanten Konzert festhalten: Teodor Currentzis, zurecht viel beachtet für seine genialen Interpretationen von Mahlers Dritter und dem Adagio der Zehnten im vergangenen Jahr, avanciert zusehends zum größten Mahler-Dirigenten unserer Zeit. Seit Claudio Abbado hat die Musikwelt so einen nicht mehr erlebt. Die Berliner Fünfte lässt sich kaum toppen. Und im April folgt schon die Vierte.
Jay Schwartz
Passacaglia – Music for Orchestra IX (Uraufführung)
Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 5
Zugabe:
Johann Sebastian Bach: Choral „Jesu meine Freude“ aus der Kantate „Herz und Mund und Tat und Leben“ BWV 147
Utopia Orchestra
Teodor Currentzis, musikalische Leitung
Berliner Philharmonie , 23. Oktober 2024
von Kirsten Liese
Man kann dieses Energiebündel mögen oder auch nicht, sich an Äußerlichkeiten stören wie seiner ausgeprägten Körperlichkeit auf dem Podium, der politischen Unangepasstheit des Griechen mit russischem Pass oder auch an seiner eigenwilligen Kleidung. Aber eines lässt sich nicht bestreiten: die charismatische starke Persönlichkeit des 51-Jährigen, sein unbändiger Ausdruckswille, seine mit einer einmaligen Vitalität einhergehende musikalische Besessenheit und Genialität, wie sie jeden Auftritt immer wieder aufs Neue bestimmt. So wie er jeden Takt, jede Note durchdringt, wird die Musik unweigerlich zum Ereignis.
„Currentzis ist der Rockstar unter den Dirigenten“, schrieb mein Kollege Jürgen Pathy in diesem Blog, „er ist vom Typ her das, was es heutzutage benötigt, um außerhalb des gewohnten Klassikteichs nach Publikum zu fischen.“ Dem lässt sich nach dem Erleben dieses jüngsten Abends in Berlin, wo der Künstler dank der ihm die Treue haltenden Konzertagentur Adler regelmäßig konzertiert, aus vollem Hals zustimmen. Das war doch der totale „Hammer“ höre ich nach dem Konzert einige junge Leute sagen, und in der Tat: Das war der „Hammer!“
Dies auch deshalb, weil Currentzis im Bereich der zeitgenössischen Musik die Spreu vom Weizen zu trennen weiß und das Konzert entsprechend mit einer Uraufführung eröffnete, die selbst aufwühlte, wer mit atonaler Musik in der Regel wenig anfangen kann.
Laut Programmheft reflektiert der Komponist in dem Stück seine eigene Geschichte als Sohn deutscher Einwanderer im amerikanischen Kalifornien, seine Suche nach seiner Identität. Dass er sich dabei an Franz Schuberts Lied Du bist die Ruh orientiert hat, aus dem er sieben Takte aufgreift, habe ich nicht bemerkt, aber das ist vielleicht gar nicht so wichtig, lässt diese packende Musik doch gänzlich unterschiedliche Assoziationen zu. Wie aus dem Nichts mit der Pauke setzt sie ein, leise und dumpf. Gespenstisch tönt das und sehr bedrohlich. Nach und nach nimmt die Passacaglia zunehmend Fahrt auf, über sich immer weiter nach oben schraubende Glissandi in den Streichern und unheilvollen tiefen Tönen im Blech. Assoziationen zu riesigen Ozeanwellen stellen sich bei mir ein, die sich haushoch vor einem auftürmen und zu verschlingen drohen. Das könnte aber auch der Soundtrack zu einem gänzlich anderen Horrorfilm sein.
Dynamisch spult sich der furchterregende Alptraum noch immer weiter hoch, bis die Klangmassen an den Klippen zu zerschellen drohen, danach verebbt er wieder in der Stille.
In Mahlers Fünfter setzt sich diese unerhörte Dramatik fort, freilich besonders im „stürmisch bewegten“ zweiten Satz mit den rasanten, aggressiven Kaskaden in den Celli, untersetzt vom Blech, im Kopfsatz und im Rondo-Finale. Mit unerhörter Attacke im rasanten Tempo spielen das die exzellenten Utopia-Musiker, und exakt wie ein Mann.
Gerade einmal seit 2022 existiert das Orchester und man kommt aus dem Staunen nicht heraus, was für exzellente Musiker Currentzis hier um sich scharen – und seinen hohen Ansprüchen gemäß formen konnte. Jeder Einzelne empfiehlt sich als ein blendender Solist, allen voran der viel beschäftigte erste Hornist David Cooper, dem nicht der geringste Kiekser unterkommt, und der erste Trompeter Miro Petkov, der die Sinfonie mit seinem höchst brillant vorgetragenen Solo eröffnet. Ganz ehrlich: Das spielen die Wiener und Berliner Philharmoniker nicht besser.
Aber neben solchen atemlosen, aufwühlenden Passagen kommen die anderen Farben nicht so kurz, im Gegenteil: Ich habe selten andere Spitzendirigenten erlebt, die Musik dynamisch derart in den Extremen ausloten, vom denkbar leisesten, kaum mehr hörbaren Pianissimo bis zum fast dröhnenden Fortissimo und, das gepaart mit faszinierenden klanglichen Farbwechseln.
Bedrückend fahl und gedämpft stimmen zunächst die Celli und später die hohen Streicher den Trauermarsch an. Dieser Klang ist durchdrungen von Schwermut, einem tiefen, stillen Schmerz. So eine Färbung kann eigentlich nur jemand in diese Musik bringen, der selbst schon fast der Welt abhandengekommen ist wie einst der sterbenskranke Claudio Abbado in seinen letzten Jahren, dachte ich mal. Currentzis widerlegt diese Annahme, animiert sein Orchester im besten Alter zu einem fast noch düsteren, geheimnisvolleren Klang.
Und damit haben sich die gedeckten Farben auf der Palette des unkonventionellen Bekenntnismusikers noch keineswegs erschöpft, flüstern die Streicher doch im berühmten Adagietto noch zarter, ganz dicht am Steg mit wenigen Bogenhaaren. Stiller Kummer, Magie, Abgeklärtheit und glückselige Schönheit, alles fließt da ineinander wie im Labor eines Alchemisten. Da ist es, als bewegte sich die Musik kaum mehr von der Stelle, so langsam und leise durchleben Currentzis und seine Mitstreiter diese Traumwelt, dass man kaum noch zu atmen wagt, bevor sie sich vor dem Mittelteil noch ein letztes Mal schmerzreich aufbäumt.
Schön, dass Currentzis den apotheotischen, virtuosen Finalsatz dicht auf den letzten verebbten Ton folgen lässt, damit auch einigen Unkundigen, die nach den ersten Sätzen Beifall klatschten, keinen Raum dazu gibt.
Wenn es etwas gibt, was ich kritisch anzumerken habe, dann dass Currentzis zwei Mal zwischen den Sätzen vom Podium herabsteigt und aus einer Wasserflasche trinkt. Diesbezüglich bin ich empfindlich wie Riccardo Muti, auch wenn ich mir gut vorstellen kann, dass der permanente körperliche Einsatz an den Kräften zehrt: Wasserflaschen haben auf dem Podium nichts zu suchen, es sieht nicht schön aus, sie können außerdem umfallen, und die Spannung in den kurzen Pausen zwischen den Sätzen lässt nach. Und wenn es schon sein muss, dann aber bitte mit Glas.
Natürlich fordern der zweite Satz mit seinen ungeheuren dramatischen Einbrüchen – und auch das so beschwingt einsetzende sehr lange Scherzo ungeheuer viel Energie, insbesondere, wenn einer unentwegt derart in Bewegung ist wie Currentzis. Aber damit sollte jeder Dirigent unabhängig seines persönlichen Stils ohne Notbehelf zurechtkommen.
Jedenfalls bescherte aber das Scherzo mit seinen unterschiedlichen herrlichen Stimmungen einen grandiosen Lichtpunkt zwischen all den eher traurigen, furchterregenden Strecken.
Eigentlich könne man nach diesem sinfonischen Koloss gar nichts Weiteres mehr hören, bemerkt Currentzis inmitten großen finalen Jubels und stehenden Ovationen. Aber da sich Mahler während seiner Arbeit an der Sinfonie mit Bach beschäftigt hatte, lässt er doch noch einen Choral aus dessen Kantate „Herz und Mund und Tat und Leben“ folgen. Seine Musiker – bis auf die Celli spielten alle im Stehen – sangen sogar den Text dazu in deutscher Sprache! Unweigerlich rief das in mir Erinnerungen an eine der schönsten Aufnahmen dieses Chorals in Klavierfassung mit dem unvergessenen Dinu Lipatti hervor und berührte mich zutiefst. Was für ein trostreicher Ausklang!
Vor allem aber eines lässt sich nach diesem grandiosen Abend festhalten: Teodor Currentzis, zurecht viel beachtet für seine genialen Interpretationen von Mahlers Dritter und dem Adagio der Zehnten im vergangenen Jahr, avanciert zusehends zum größten Mahler-Dirigenten unserer Zeit. Seit Claudio Abbado hat die Musikwelt so einen nicht mehr erlebt. Die Berliner Fünfte lässt sich kaum toppen. Und im April folgt schon die Vierte.
Kirsten Liese, 24. Oktober 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
UTOPIA Dirigent Teodor Currentzis Elbphilharmonie, 18. Mai 2024
Utopia, Teodor Currentzis, Barnabás Kelemen, Violine Berliner Philharmonie, 14. November 2023
Das Konzert am 24. Oktober 2024 war an Genialität nicht zu toppen.
Ich hatte zeitweise Tränen in den Augen.
Ein Genie, dieser Currentzis. Schwärme, mit meinen 85, bereits einige Jahre für diesen Künstler, hat mich schon in der 3. Sinfonie von Mahler begeistert.
Er bleibt uns hoffentlich noch lange erhalten.
Danke für diese schönen Momente.
Leni Pfeiffer