Foto: Valentin Uryupin (c) Daniil Rabovsky
Dirigent Uryupin und die Bremer Philharmoniker präsentieren eine bildgewaltige Auerbach-Uraufführung und ganz großes Tschaikowsky-„Kino“
10. Philharmonisches Konzert: „Ein Fest für Neues“
Programm:
Lera Auerbach On Grief and Wonder – Adam’s Lament
Mieczysław Weinberg Trompetenkonzert B-Dur op. 94
Pjotr Iljitsch Tschaikowsky Symphonie Nr. 5 e-Moll op. 64
Selina Ott Trompete
Valentin Uryupin Dirigent
Die Bremer Philharmoniker
Bremer Konzerthaus Die Glocke, 11. Mai 2025
von Dr. Gerd Klingeberg
„Ein Fest für Neues“ lautet das Konzertmotto. Und gibt es tatsächlich Neues. Sogar Brandneues, nämlich die veritable Uraufführung von Lera Auerbachs „On Grief and Wonder – Adam’s Lament“. Dabei handelt es sich um eine Auskopplung aus der 5. Sinfonie der längst weltweit gespielten, in den U.S.A. lebenden russisch-österreichischen Dirigentin und Komponistin.
Eingangs düsteres, tiefdunkles Grollen nimmt die Zuhörer unmittelbar gefangen, steigert sich zum tosenden Fortissimo. Ein wildes Losstürmen setzt ein, bricht abrupt ab, schlägt um in sphärische Klänge eines bedrückenden Lamentos. Und wieder ein ungebärdig martialisches Getöse, das abebbt und von beinahe lieblichen Klängen, später von wie weinerlich anmutenden Glissandomotiven konterkariert wird. Das Szenario erinnert an frappant filmmusikalische Tonmalereien; vor dem geistigen Auge entstehen Bilder von Chaos, Schmerz, Zerstörung. Bedrückende Klage? Oder eher Anklage Adams – oder der gesamten Menschheit gegen Gott oder ein unpersönliches Universum? Eine eindeutige Antwort hat „Adam’s Lament“ nicht parat; sie bleibt jedem einzelnen Hörer überlassen.
Die faszinierend bildgewaltige Komposition, die vom Orchester unter dem präzisen Dirigat von Valentin Uryupin mit großem Impetus vorgetragen wird, endet vielmehr in einer eher resignierenden Melodik und glockenklang-ähnlichen Akkorden, die dumpf im Nirgendwo entschwinden.
Neue Musik, vom Aufbau her gewiss ungewohnt, nichts Eingängiges oder gar zum prompten Mitpfeifen. Aber eine Komposition, durchdrungen von Auerbachscher Leidenschaft, mit tiefgründigen Aussagen, die sich den Zuhörern auch ohne Worte unmittelbar mitteilen.
Melancholie, Ironie und Hochzeitsmarsch
Nicht mehr ganz so neu ist das im Januar 1968 in Moskau uraufgeführte Trompetenkonzert von Mieczysław Weinberg. Für den spieltechnisch höchst anspruchsvollen Solopart steht mit der noch jungen Österreicherin Selina Ott eine ausgewiesene Trompetenvirtuosin zur Verfügung. Es scheint ihr geradezu ein Leichtes zu sein, die vielfachen schnellen Figuren, aber auch die messerscharfen Fanfarenattacken mit blitzsauberem Ansatz in Perfektion zu präsentieren und damit sowohl die Verspieltheit als auch der mitunter frappant an Schostakowitsch erinnernde ironische Charakter der Komposition deutlich zu machen.

Der Mittelsatz „Épisodes“ startet mit hymnisch breitem Orchesterfortissimo, dann folgt eine anrührend melancholische Flötenmelodie, die überraschend mit nahezu identischem Timbre von der sordinierten Solotrompete in mystisch verträumten Klangfarben nahtlos weitergeführt wird und in unterschwelligem Grummeln und einem Glockenschlag endet.
Als eine Art reizvolles „Erkennen Sie die Melodie“-Suchspiel entpuppt sich der Finalsatz „Fanfares“ mit teils verballhornten Zitaten von Mahler, Bizet, Rimskij-Korsakow und Strawinsky sowie dem problemlos auszumachenden Hochzeitsmarsch aus Mendelssohns „Sommernachtstraum“ – ein nicht ganz einfach zu entwirrendes Quodlibet, das bei unregelmäßigem Walzermetrum schillernder Klangfarben abrupt in einen hart donnernden Schlussakkord einmündet.
Für sehr bewegende Momente sorgt die Zugabe „La Veu del Silenci“ („Die Stimme der Stille“), eine den Opfern der letztjährigen Flutkatastrophe in Valencia gewidmete Komposition von Ricardo Mollá, die Ott warmtönig intoniert gemeinsam mit dem Orchester vorträgt.
Monumentalfilmischer Soundtrack
Nach der Pause geht es noch ein paar Jahre zurück: 1888 ist Tschaikowskys Fünfte entstanden, eine Schicksalssinfonie, von Beginn an durchdrungen von Pathos und Dramatik. Uryupin dirigiert sie auswendig; so kann er seine energische Körpersprache noch intensiver einsetzen als zuvor, um seine interpretatorischen Ziele en détail zu vermitteln und das Orchester zu Höchstleistungen anzutreiben. Und die Philharmoniker gehen voll mit.

Was sie an Klangdichte und Dynamik produzieren, das ist mindestens so effektvoll wie der pompöse Soundtrack eines Monumentalfilms.
Für den sehr getragenen 2. Satz Andante nimmt sich Uryupin alle Zeit der Welt, schwelgend in düster-flauschiger Harmonie-Tristesse von schier unendlicher Wehmut und Melancholie. Das hochemotionale Motiv des Solo-Horns treibt einem fast schon die Tränen ins Auge; die Pausen zwischen einzelnen Abschnitten sind mitunter dermaßen lang, dass die Gesamtheit auseinanderzufallen droht. Aber nur, bis sich ein erneut turbulentes Donnergetöse entwickelt.
Geradezu lieblich und unterhaltsam mutet dagegen Satz 3 „Valse“ an – eine wahre Erholung für die Ohren. Die indes nicht lange dauert. Das breite Maestoso des Finalsatzes wirkt so beeindruckend wuchtig wie die Mauern des Kremls oder das Große Tor von Kiew. Der folgende Allegro-Abschnitt wird zum Rausschmeißer par excellence: Das Orchester dreht nochmal voll auf, bei rekordverdächtigem Tempo. Urplötzlich ist Schluss. Aber die ausgestreckte Hand des Dirigenten weist die Zuhörer an abzuwarten; denn das war noch nicht alles! Wild und ungebärdig wie ein tatarisches Reiterspektakel geht es ohrenbetäubend in die allerletzte Runde, die so überwältigend bombastisch wie ein gigantischer Triumphmarsch gerät:
Ganz großes „Kino“, das die Zuhörer mit begeistertem Beifall feiern.
Dr. Gerd Klingeberg, 12. Mai 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.athttps://klassik-begeistert.de/die-deutsche-kammerphilharmonie-bremen-marie-jacquot-dirigentin-bremer-konzerthaus-die-glocke-14-maerz-2025/
4. Philharmonisches Konzert Elbphilharmonie, 15. Dezember 2024
Blu-ray: Pyotr Ilyich Tchaikovsky The Enchantress (Die Zauberin) klassik-begeistert.de, 12. Mai 2024