Ich werde wohlig überschüttet aus dem reichen Füllhorn der Neuen Musik

„Verbindung“ – Konzert anläßlich 20 Jahre ensemble oktopus  Reaktorhalle, München, 08. Februar 2023

Reaktorhalle, München, 08. Februar 2023


„Verbindung“ – Konzert anläßlich 20 Jahre ensemble oktopus

ensemble oktopus
Leitung Konstantia Gourzi, Armando Merino

Besetzung

Solisten und Solistinnen
Mezzosopran Julia Rutigliano
Bariton Gerrit Illenberger und Christian Gerhaher
Dandelion Quintett

von Frank Heublein

An diesem Abend wird in der Reaktorhalle, einer Aufführungsstätte der Hochschule für Musik und Theater München (HMTM) das Programm „Verbindung“ aufgeführt. „Im Wintersemester 2002/2003 gründete die Komponistin und Dirigentin Konstantia Gourzi das ensemble oktopus an der Hochschule für Musik und Theater München mit einer klaren Vision: Das Ensemble soll sich mit Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit im Genre der Neuen Musik bewegen.“ So steht es im Programmheft. Die Studierenden sollen mit Lehrenden und Bühnenerfahrenen gemeinsam die Neue Musik entdecken. Heute musiziert mit dem ensemble oktopus der an der HMTM Lehrende Christian Gerhaher und die Alumna Julia Rutigliano mit den Studierenden der Hochschule. Finde ich klasse.

Das Dandelion Quintett in der Besetzung Flöte, Oboe, Klarinette, Fagott und Horn eröffnet den Abend mit 6 Bagatellen des György Ligeti. Ich lerne: für das Horn gibt es einen Dämpfer. Einen solchen habe ich noch nie wahrgenommen. Abgesehen von der spannenden klanglichen Veränderung ist es für mich amüsant anzusehen: auch das Fagott bekommt einen „Dämpfer“ in einer der Bagatellen. Ein gefaltetes Tuch wird oben ins Instrument hineingestopft und vom Klarinettisten dann schnell herausgezogen und einfach fallengelassen am Ende des kurzen Stücks, denn der Übergang zur nächsten Fagott-ungedämpften Bagatelle ist kurz. Ich überschreibe die Bagatellen: die erste ist frech. Die zweite voller suspense – die Film- und Theatersprache nennt so die Erwartung eines Ereignisses ohne sein Eintreffen. Die dritte wirkt hypnotisch auf mich. Die vierte schmissig. Die fünfte erzählt gleitend schwebend. Die sechste ist hintersinnig. Ich könnte diese letzte Bagatelle als Filmmusik einer surrealen satirischen Komödie des Jacques Tati identifizieren. Das agile sehr exakte aufeinander Antworten der Instrumentalisten in den Bagatellen macht mich beschwingt.

Die Gründerin des Ensembles Konstantia Gourzi führt durch den Abend und kündigt Wilhelm Killmayers Vertonung des Gedichts „Aussicht“ von Friedrich Hölderlin an. Ein Stück für Bariton und neun Instrumente: die komplette Streicherriege mit doppelt besetzter Violine. Dazu die Blasinstrumente Klarinette, Fagott und Horn und Klavier. Die Streicher – der Kontrabass bildet eine Ausnahme, ein kleines Highlight nah dem Ende – unterstützen die Stimme. Die Bläser und das Piano bilden in meinem Hören eher ein Gegenüber der Stimme. Die erste Liedzeile, die Bariton Gerrit Illenberger mit konzentriert fester Stimme vorträgt, lautet „Wenn Menschen fröhlich sind, ist dieses vom Gemüte“. Das zeigen und versprühen die Musiker und Musikerinnen hör- und spürbar. Und da, fast am Ende, kommt der Auftritt des Kontrabasses, auf der tiefen E-Saite ein stoisches Grummeln.

Der Komponist Gregor Hübner ist anwesend. Von ihm wird das Stück Trois Facettes gespielt. Er sagt, die Instrumente Harfe, Marimba und Klavier klängen einfach toll zusammen – stimmt! Das trifft vollkommen auf seine Komposition und dessen Interpretation an diesem Abend zu. Anfangs eine Improvisation, einem vom Komponisten häufig genutzten Element, mit vorgegebener Struktur. Und der Rhythmus sei wichtig, so Hübner. Oh ja. Spannungsgeladen fügen sich die Klänge der drei Instrumente homogen ineinander. Der tiefe warme runde Sound des Marimbas, das Klavier klar und bestimmt. Die Harfe hell sprudelnd oder stählern hart beim Zupfen.

2020 © Gregory Giakis

Erwin Schulhoff wurde mir schon früher vom Jewish Chamber Orchestra Munich und seinem Dirigenten Daniel Grossmann nähergebracht. Ein nicht sehr bekannter, doch äußerst spannender Komponist. „Die Wolkenpumpe“ ist ein dadaistischer Text. Großartig! verständlich und emotional differenziert interpretiert von Christian Gerhaher. Der Sinn ergibt sich für mich nicht in der Semantik des Textes ohne jedes Satzzeichen. Vielmehr gewinne ich den Sinn aus der Art und Emotionalität von Gerhahers Gesang. Ein mich tief bewegender Moment. Im Schreiben dieses Textes denke ich an meine sprachwissenschaftlichen Studien zurück: daraus hätten die Herren Frege, Wittgenstein und Tugendhat ein sprachphilosophisches Fest gemacht. Gerhahers Bariton umspielt eine spannende orchestrale Besetzung: Klarinette, Fagott, Kontrafagott – das sehr tief spielt!, Trompete und Schlagzeug. Beeindruckend atmosphärisch dicht, intensiv unter extremer Spannung. Ein Hochgenuss.

Yevhen Stankovych ist ein lebender ukrainischer Komponist, den ensemble oktopus Gründerin Gourzi entdeckt hat und sich von seiner Tochter Partituren hat schicken lassen. Aufgeführt wird sein Stück Mirages. Gourzi sagt zur Einführung den tollen Satz: „Wir lernen mit der Musik Arroganz abzutragen“. Die Komposition ist voller Schmerz und Freude. Ein emotionales Auf und Ab, das für mich zum Spiegel des Moments wird. Der Genuss wunderbarer Musik, die zugleich in mir Gedanken an den Krieg in der Ukraine und an das Erdbeben in der Türkei und Syrien weckt.

2020 © Gregory Giakis

Zum Schluss werden Luciano Berios Folk Songs für Stimme und Ensemble aufgeführt. Elf Songs in vier Sprachen. Dass die Songs umspannende Einwort ist für mich keck. Konzentriert aktiv und sehr charmant singt Mezzosopran Julia Rutigliano die Songs. Genauso so aktiv, vif und alert agiert das Ensemble.

Ein großartiges Füllhorn Neuer Musik, dass mir das ensemble oktopus mit seinen Gästen bietet an diesem Abend. Großartige Entdeckungen. Im Gehen höre ich en passant eine Frau sagen „Ich hätte nie gedacht, dass mir Neue Musik so viel Spaß machen könnte“. Spannende kreative Musik, die unerwartet oder in ganz fröhlicher Erwartung Spaß macht, mit dem Bauch erfasst werden darf und soll und mich beschwingt nach Hause radeln lässt in derber Kälte.

Eine Art Postskriptum: Dies war mir nicht bekannt. Im Rahmen der Erstellung dieses Textes habe ich es ergoogelt: für einen Darmsaitensatz für den Kontrabass kann man 799 € ausgeben.

Frank Heublein, 11. Februar 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Programm

»Verbindung«

György Ligeti: 6 Bagatellen (1953)

Wilhelm Killmayer: Aussicht (1989)

Gregor Hübner: Trois Facettes (2020)

Erwin Schulhoff: Die Wolkenpumpe (1922)

Yevhen Stankovych: Mirages (2014)

Luciano Berio: Folk Songs (1964)

Konzert Passions Pasticcio »Wer ist der, so von Edom kömmt« Hochschule für Musik und Theater, München, 19. Mai 2022

Windfuhrs Werkstatt-Konzerte mit den Symphonikern Hamburg, Michaela Kaune, Hochschule für Musik und Theater Hamburg

 

Rezension Konzert »Ben-Haim – Resonanzen«, Großer Konzertsaal der HS für Musik und Theater, München, 11. Februar 2022

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