Photo: Marius Engels (Ensemble)
Großer Saal der Hamburger Elbphilharmonie, 2. April 2023
Via Crucis – Werke von Liszt, Grieg, Schubert und Xenakis
Grete Pedersen, Dirigentin
Leif Ove Andsnes, Klavier
NDR Vokalensemble
von Dr. Andreas Ströbl
Am Palmsonntag jubelte die Jerusalemer Menge dem auf einem Esel reitenden Jesus noch zu. Fünf Tage später hing er am Kreuz – die Kreuzigung war eine der widerwärtigsten und qualvollsten Hinrichtungsmethoden, von den römischen Besatzern tausendfach angewandt, alleine schon der Demütigung wegen. Jeder weiß, wie die grausame Geschichte erst einmal ausgeht – und wie sie lichtvoll weitergeht. Nach der tristen Karwoche folgt die glorreiche Auferstehung, bei der auf historischen Darstellungen Jesus als königlicher Herrscher über Leben und Tod die traditionelle Siegesfahne flattern lässt.
So hat die norwegische Dirigentin Grete Pedersen mit ihrem Programm „Via Crucis“ am Palmsonntag 2023 die Passion und Auferstehung Christi vorweggenommen, indem sie Franz Liszts Kreuzweg-Kantate in der Fassung für gemischten Chor, Solisten und Klavier mit Werken anderer Komponisten kombinierte. Diese Mischung erwies sich als klug und sensibel, denn das mitunter klanglich harte und in seiner herben Schönheit inhaltlich unbequeme Werk erhielt so ein harmonisch ausgleichendes Gegengewicht.
Zu Beginn wurde seitens des Managers des Chores, Ilja Stephan, auf den Ernst des Programms hingewiesen und gebeten, Klatschen zwischen den einzelnen Stücken bzw. Blöcken zu unterlassen. Das war auch notwendig, denn das Publikum war höchst unruhig; es wurde andauernd geknistert, geknispelt und gehustet. Zudem liefen während des Konzerts rund zwei Dutzend Leute hinaus, die teils Kinder mitgenommen hatten – man kann sich doch anhand des Titels und des zuvor bekannten Programms ausrechnen, dass das keine Spaßveranstaltung für Hamburg-Wochenend-Besucher sein wird!
Sei’s drum – von der musikalischen Darbietung her war der Abend hochanspruchsvoll; die Mitglieder des Chores, die Solisten und Leif Ove Andsnes am Flügel boten höchste Qualität, geleitet von Grete Pedersen. Ihr unprätentiöses, aber klares Dirigat war durchweg zurückhaltend und auf das Nötigste begrenzt.
Eröffnet wurde „Via Crucis“ durch ein Stück aus dem Zyklus „Psalmen“ von Edvard Grieg (op. 74, 1, 3 und 4); weitere zwei dieser Lieder, die trotz des Namens keine Vertonung alttestamentlicher Psalmen sind, gliederten im folgenden Verlauf das von Liszts Kantate dominierte Konzert. Diese Musik für gemischten Chor hätte in ihrer unkomplizierten und optimistischen Art auch in einer kleinen norwegischen Dorfkirche mit bemalten Holzbalken erklingen können; aus ihr sprach in ihrer protestantischen Reduktion auf die frohe Botschaft eine andächtige, naive Volksfrömmigkeit. Die farbenreiche Chromatik erinnerte zuweilen an Gesänge der Ostkirche.
Aus dem heimelig singenden Chor stachen die Bässe Andreas Heinemeyer und Dávid Csizmár mit ihren Solo-Einlagen durch schöne Präsenz, aber ohne sich in den Vordergrund zu singen, heraus. Dávid Csizmár war als Solist später auch in Liszts Via Crucis zu hören.
Dass Iannis Xenakis’ „Nuits“ für 12 gemischte Stimmen von 1967 eine Widmung an die politischen Gefangenen der Welt und damit von hartem Ernst erfüllt ist, wurde vornweg angekündigt. Die dümmlichen Lacher im Publikum aufgrund der ungewohnten und schrillen Töne waren daher nur peinlich. Ja, diese Musik tut weh, sie geht in ihrer Unbequemlichkeit an die Grenzen des stimmlich Machbaren und auch des Hörbaren. Dissonante stakkatohafte Ausrufe klingen wie Befehle, laute Fragen oder Hilferufe, auf- und abschwellendes Klagen lassen an die Äußerungen von Trauer denken, das Raunen und hektische Zischeln mag eine Woche vor Ostern an einen Alptraum im Garten Gethsemane oder die Laute der Menge auf dem Weg nach Golgatha gemahnen.
Es folgte die Einleitung von Liszts Via Crucis; die Kantate erklang dann im Weiteren in zwei größeren Blöcken und abschließend mit der letzten Kreuzwegstation. Leif Ove Andsnes ließ mit seinem häufig harten, ja unerbittlichen Anschlag keinen Zweifel an der ganzen Unbarmherzigkeit der Geschichte, aber bewies im weiteren Verlauf ebenso große Feinfühligkeit und ein untrügliches Gespür für die Zartheit und Grazie, die eben auch in dieser oft schroffen Musik lebt. Trotz der Solopartien und die allein durch die Lautstärke dominanten Einsätze stellte sich der Weltklasse-Pianist immer in sympathischer Zurückhaltung ganz in den Dienst an dem sakralen Werk.
Bereits in diesem ersten Teil setzten die Sopranistin Catherina Witting, die Altistin Ina Jaks, der Tenor Christian Georg und der Bass Fabian Kuhnen deutliche Akzente; letzterer sang später auch den Pilatus. In weiteren Stationen gesellten sich noch die Sopranistin Elisa Rabanus und die Altistinnen Tiina Zahn, Anna-Maria Torkel sowie Alexandra Hebart dazu. Ähnlich wie singende Mönche schritten die Chormitglieder im Raum herum und formierten sich neu, was eine schöne, aber gemessene Auflösung des Statuarischen schaffte.
Franz Schuberts Vertonung des 23. Psalms für vierstimmigen Frauenchor und Klavier (D. 706) war eine liebliche Insel in der feierlichen Strenge der Passionsgeschichte, vergleichbar dem frischen Wasser der Bäche, an denen die dankbare Seele des Psalmisten Labung findet.
Dann ging es aber wieder auf den Leidensweg Christi nach Liszt. Wechsel von einstimmigem Choralgesang und figuraler Mehrstimmigkeit schaffen in diesem Stück eine reizvolle Spannung zwischen dem nüchtern Sakralen der Passionsmusik und dem lebenszugewandten Blick auf das, was nach dem „Todesschattental“ lichtvoll ahnbar ist. Kleine zarte Momente der Helligkeit lassen immer wieder die Hoffnung im grausamen Geschehen aufflackern. „Stabat mater“ hat zwar für uns fast nur noch formelhaften Charakter, aber man sollte sich immer wieder einmal vorstellen, was es heißt, wenn eine Mutter zusehen muss, wie ihr Sohn hingerichtet wird. So etwas passiert auf Erden häufiger, als man es sich ausmalen mag. Das harte „Crucifige“ des Pöbels macht deutlich, wie der Hass sich in einer wütenden Menge äußert und was er anrichten kann. Dem entgegengesetzt gibt das fast wie ein Mantra wiederholte „O Traurigkeit, o Herzeleid“ einer ohnmächtigen Trauer zu Herzen gehenden Ausdruck.
Die letzte Station zaubert tatsächlich inhaltlich und musikalisch Trost in die düstere Szenerie, goldene Klavierklänge wirken wie Balsam auf den Wunden des Gemarterten; mit dem Glauben an die Auferstehung Christi sind die Hoffnung auf Erlösung und ein ewiges Leben aller verbunden.
Eine besonders schöne Idee hatte Grete Pedersen, indem sie den Tenor Keunhyung Lee abschließend eine Alt-Partie mit Countertenor-Stimme singen ließ. Das brachte das innere Licht in dieser Musik zum Leuchten, die damit einen würdigen, friedvollen Abschluss fand.
Langanhaltender Beifall würdigte eine vielfältige Gesamtleistung mit ganz besonderen solistischen Momenten.
Dr. Andreas Ströbl, 3. April 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
musicAeterna, Alexandre Kantorow, Teodor Currentzis Elbphilharmonie, Hamburg, 15. April 2022
L’Arpeggiata/Christina Pluhar, Elbphilharmonie, Großer Saal, 13. April 2022