Die Vögel fordern die Götter heraus. Zeus greift ein. Foto: © Wilfried Hösl
Rezension des Videostreams: Walter Braunfels‘ „Die Vögel“
Bayerische Staatsoper München, Premiere am 31.10.2020
von Frank Heublein
Ich hatte eine Premierenkarte, doch die wurde storniert ob der Coronazahlen und der einhergehenden Reduzierung auf 50 Personen als Publikum. In einem Haus, das 2000 Personen Platz bietet. Tapfer klatschen und trampeln diese 50. Am Bildschirm schmerzt mich dieser Anblick.
Wenn ich in eine Castorf-Inszenierung gehe, dann weiß ich, dass ich visuell überfordert werde. Es gibt zu viel auf unterschiedlichen Leinwänden und auf der Bühne gleichzeitig zu sehen. Ich weiß nicht, wo hinsehen und weiß zugleich: Ich werde was verpassen vom Prallen der Inszenierung. Am Bildschirm ist das schlimmer, denn die Bildregie entscheidet für mich (das ist kein Vorwurf an die Bildregie). Krass steht dieses einfach zu erfassende einzelne Bild im Gegensatz zur überbordenden Inszenierungstechnik des Frank Castorf. Bitter. Beschneidend. Den ganzen Castorf gibt es nur vor Ort und damit erst einmal gar nicht, denn alle weiteren Aufführungen im November sind wegen des kulturellen Lockdowns abgesagt.
Walter Braunfels zeichnet beim 1920 ebenfalls im Nationaltheater München uraufgeführten Stücks für Komposition wie auch Libretto verantwortlich. Einerseits ist die Geschichte spannend, denn der Einflüsterer, Retterfreund des Volks der Vögel darf prophetisch verstanden werden. So jedenfalls interpretiere ich es, wenn die Menschen, die im Stück auftreten, zuweilen Naziuniformen tragen. Der historisch verbriefte Einflüsterer und „Retterfreund“ der Deutschen naht keine drei Jahre später nach der Uraufführung.
Andererseits ist das Libretto in sich nicht schlüssig, denn am Ende ist es pures Wohlgefallen, in das sich die Handlung auflöst. Es passiert niemanden nichts. Das ist für mich als Zuschauer enttäuschend. Denn die Konsequenzlosigkeit gilt nicht für die inszenatorische Analogie zum Naziregime – auch wenn ich das Ende von Retterfreund und Hoffegut als entnazifizierte Mitläufer interpretiere, die sich unauffällig unters Volk mischen. Ich stelle einen Bruch zwischen Libretto und Inszenierung fest, den ich für mich nicht kitten kann.
Die Komposition ist spätromantisch, ein langer vergleichsweise ruhiger vogelzwitschernder Melodienfluss ohne dynamische Aus-Brüche. Nur einmal trennt ein herber Gong die musikalischen Läufe. Ist musikalisch nicht mein Ding, stelle ich einmal mehr fest. Trotzig denke ich, ich werde es weiter ausprobieren, mich von romantischer Musik erfassen zu lassen. Ingo Metzmacher leitet das Bayerische Staatsorchester sicher und souverän durch diesen Fluss. Dass keine Begeisterung entsteht, liegt zum einen in mir drin. Zum anderen liegt es an der Situation der Übertragung. Da hilft die beste Vorbereitung nichts: Kopfhörer, Dunkelheit, alles Ablenkende außer Reichweite.
Stimmlich gefallen mir im ersten Akt die Menschen Bariton Michael Nagy als Ratefreund und Tenor Charles Workman als Hoffegut besonders gut. Beide singen kraftvoll, klar, entspannt. Ein tolles Team! Caroline Wettergreen als Nachtigall hat im ersten Akt viele vogelgleiche Koloraturen zu bewältigen. Doch singt sie diese Nachtigall nicht nur, sondern spielt die zuckende Erstarrung eines Vogels bei irgendeiner unbekannt fremden Bewegung so präsent, dass mich das stark beeindruckt.
Die Handlung im ersten Akt: Zwei Menschen flüchten von der Menschheit zu den Vögeln. Diese sind zuerst misstrauisch, doch dann wickelt sie der eine Mensch, Retterfreund genannt, ein. Verführt sie zum Aufstand gegen die Götter. Als Vorlage des Librettos dient eine Komödie des Aristophanes.
Die für mich beeindruckendste Szene des Stücks ist die erste des zweiten Aktes. Sie ist so schön, so lang, so ergreifend. Mein Herz geht auf. Die Nachtigall singt dem Hoffegut die Liebe ein. Ich labe mich an Caroline Wettergreens stimmlich reiner, hohen und sehr entspannten Stimme. Die Nachtigall erinnert sich, stimmt ein Lied an, ist es für Hoffegut bestimmt? Ist es eher ein Gesang zur theoretischen Vorstellung von Liebe? Hoffegut jedenfalls entbrennt in Liebe! Pirscht sich heran, flötet die Nachtigall geradezu an, becirct sie, herunter zu ihm zu kommen, denn er kann nicht zu ihr hinauf. Beide versuchen sich aneinander heranzusingen. Es gelingt. Wie schon erwähnt, das toll gespielte vogelhafte Erstarren Caroline Wettergreens Nachtigall bei der ersten Annäherung Hoffeguts versetzt mir auch in diesem Fall einen intensiven Stich. Die Inszenierung legt offensichtlich prall nahe, dass die Annäherung physisch gelingt. Es kommt zum Sex im psychedelisch grün ausgeleuchteten Hinterzimmer. Was meine minnehaft entzückten Gefühle sogleich verfliegen lässt.
Danach empfinde ich Langweile durch handlungstechnische Langatmigkeit. Castorf versucht diesen Längen inszenatorisch etwas entgegenzusetzen, unter anderem durch Einspielungen von Hitchcocks Film „Die Vögel“ – der Filmregisseur prangt riesengroß auf einer Seite der von Castorf eingesetzten Drehbühne. Mir dauert es einen deutlichen Moment zu lang, bis Prometheus, raumfüllend gespielt und gesungen durch Wolfgang Koch, die Bühne betritt. Doch auch die Drohung Prometheus‘, dass Zeus den Aufstand der Vögel gleich niederschlagen werde mit Blitz und Donner. Zeus kommt, die Vögel geben klein bei. All das entfacht in mir keine Spannung. Bedauerlich, ich kann’s nicht ändern.
Und was tun die Menschen jetzt, wo die alte Ordnung hergestellt, die Revolution gescheitert ist? Zumal von Bestrafung keine Rede ist – ich kenne Zeus dagegen als sehr nachtragenden Gesellen, pardon: Göttervater! Insofern bin ich ziemlich überrascht und enttäuscht. Rettergut redet sich seine Einflüsterei zum Aufstand zu einer Betise und Petitesse schön und drängt Freund Hoffegut zur Rückkehr zu den Menschen, wohl um besser, schneller, einfacher zu verdrängen. Hoffegut sieht keinen anderen Weg als den zurück zu den Menschen, die er floh, weil er nur auf Unverständnis stieß. In der Rückkehr begriffen, erinnert er sich an die Begegnung mit der Nachtigall. Sie hallt in ihm nach – er singt „ich hab gelebt“. Leise zwitschert die Nachtigall das Opernende.
Liegt es am Bildschirm? Der einhergehenden Kastrierung der Castorf’schen Effektabsicht? Liegt es am Libretto? Liegt es an meiner derzeitigen Unzugänglichkeit zum Romantischen? Ich kann das nicht entscheiden. Die Vögel lassen mich über weite Strecken unberührt. Und trotzdem: Ob der starken Empfindung beim Duett der Nachtigall und Hoffegut am Anfang des zweiten Aktes hat sich für mich der (Bildschirm-) Abend gelohnt!
Frank Heublein, 1. November 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Marina Abramović: „The 7 deaths of Maria Callas“ Bayerische Staatsoper, 6. September 2020
Musikalische Leitung Ingo Metzmacher
Inszenierung Frank Castorf
Bühne Aleksandar Denić
Kostüme Adriana Braga Peretzki
Licht Lothar Baumgarte
Video Stefanie Katja Nirschl, Andreas Deinert
Live-Schnitt Timo Raddatz
Chor Stellario Fagone
Dramaturgie Rainer Karlitschek
Nachtigall Caroline Wettergreen
Hoffegut Charles Workman
Ratefreund Michael Nagy
Prometheus Wolfgang Koch
Wiedhopf, einstens ein Mensch, nun König der Vögel Günter Papendell
Zaunschlüpfer Emily Pogorelc
1. Drossel Yajie Zhang
2. Drossel Eliza Boom
Adler Bálint Szabó
Rabe Theodore Platt
Flamingo George Vîrban
Bayerisches Staatsorchester
Chor der Bayerischen Staatsoper