Das WDR Sinfonieorchester Köln (WSO), Foto: © WDR/Clüsserath
Kölner Philharmonie, 4. Februar 2022
Sean Sheperd – Downtime (Uraufführung) – Kompositionsauftrag des WDR
Sergej Rachmaninow – Die Toteninsel op. 29 – Sinfonische Dichtung nach Arnold Böcklin für großes Orchester
Sergej Rachmaninow – Rhapsodie a-Moll über ein Thema von Paganini op. 43 für Klavier und Orchester
Pjotr Tschaikowsky – Sinfonie Nr. 5 e-Moll op. 64
WDR Sinfonieorchester
Cristian Măcelaru, Dirigent
Denis Kozhukhin, Klavier
Von Daniel Janz
In einem hauptsächlich russisch orientierten Programm traten das WDR Sinfonieorchester und sein Chefdirigent an diesem Freitag an, um ihr Stammpublikum zu unterhalten. Der Pandemie ist es geschuldet, dass diesmal nur knapp ein Drittel des Saals gefüllt werden konnte. Laut Aussage der Webseite war das Konzert damit gänzlich Abonnementen vorbehalten. Ein letztendlich undankbarer Zustand, wenn man bedenkt, dass mit Rachmaninow und Tschakowsky zwei Größen der russischen Musikgeschichte auf dem Programm standen.
Den Beginn machte aber eine Uraufführung des US-amerikanischen Komponisten Jean Sheperd (42), der für die vom WDR beauftragte Serie „Miniaturen der Zeit“ einen Beitrag mit Fokus auf Blasinstrumente leistete. In seiner die Einsamkeit durch den Corona-Lockdown ansprechenden Komposition „Downtime“ begegnet dem Publikum eine stark reduzierte Streichergruppe ohne Violinen. Dafür spickt Sheperd die lange Zeit ziellos umherirrende Komposition mit allerhand Stilmitteln, die zum Ausdruck unserer von der Pandemie geplagten Gefühle gut funktionieren: Lang gezogene, zähe Akkorde mit Harfenglissandi, immer wieder schrille Bläserstöße und ein schon fast als Leitrhythmus fungierendes „Tick – Tack“, das als Illustration leer verstreichender Stunden gelingt. Schade, dass diese an und für sich interessante Komposition über Effekte hinaus aber nicht den Mut aufbringt, mehr anzustreben, als eine Momentaufnahme. Das hätte Potenzial zu Größerem gehabt.
Der zweite Teil des Abends ist ein sehr bildliches Werk des russischen Komponisten Sergej Rachmaninow. Die 1909 in Dresden entstandene „Toteninsel“ kann im Hinblick auf das Vermächtnis des Komponisten bereits als Klassiker bezeichnet werden. In unterschiedlich bildhaften Abschnitten erstellte er hier eine über 20 Minuten lange Vertonung zu dem gleichnamigen Bild von Arnold Böcklin, das seinerseits wiederum zu den wichtigsten Werken des Symbolismus zählte.
Rachmaninows Werk ist eine Komposition, die ein jedes Orchester vor eine Herausforderung stellt mit dem Potenzial zum Glanzstück zu werden. Das setzt aber auch genaue Arbeit voraus, damit es nicht schief geht. Tatsächlich erscheint Măcelarus Interpretation zu Beginn ambivalent – gerade auch der gemächliche Einstieg gerät dem rumänischen Dirigenten (41) wieder zu schnell und im ersten Drittel schleicht sich auch immer mal wieder der Eindruck ein, als würden die Musiker nur vom Blatt spielen. Der Mangel klarer Akzentuierungen hemmt zeitweise die Entfaltung des tristen Ausdrucks. An der sich ab der Mitte entfaltenden Dramatik merkt man dann aber doch, dass sich die Beteiligten ernsthaft mit der Komposition auseinandergesetzt haben. Der erste Ausbruch mit Becken und Trommel und das Dies Ireae zum Ende hin markieren dann doch Ausdrücke, die ergreifen können.
Auch die dritte Komposition dieses Abends stammt aus der Feder Rachmaninows. Für dieses Werk verarbeitete er ein Thema von Paganini zu einer Variation für Orchester und Soloklavier. Den solistischen Part hätte heute Abend die Klaviervirtuosin und Professorin aus Hamburg Anna Viniskaya (38) übernehmen sollen, was sie jedoch aufgrund einer Erkrankung absagen musste. Für ihre Genesung sei ihr alles Gute gewünscht!
Ein passender Ersatz konnte kurzfristig in dem renommierten russischen Pianisten Denis Kozhukhin (35) aus Nowgorod (heute in Berlin lebend) gefunden werden. Es ist nicht das erste Mal, dass er als Ersatz einspringt – bereits 2015 vertrat er Martha Argerich und auch 2017 konnte er spontan als Ersatz für Lang Lang (ebenfalls mit Rachmaninow) sein Talent unter Beweis stellen.
Und dass man in ihm einen angemessenen Ersatz gefunden hat, zeigt besonders sein beschwingter Umgang mit der Musik, die er komplett auswendig spielt. Sein temperamentvoller Ansatz an das Thema von Paganini wirkt zwar in der ein oder anderen ruhigen Variation etwas hart. Doch was Virtuosität angeht, ist der sich bis zur Erschöpfung spielende Kozhukhin stets auf dem Punkt. Damit bildet er auch die Sternstunde an diesem Abend zu einem Orchester, das ihn über weite Strecken etwas schulmeisterlich begleitet. Erst als es sich nach einer ergreifenden Solokadenz zum Ende hin zuspitzt, entsteht Gänsehautgefühl. Ein Eindruck, den der ausgezeichnete Kozhukhin über eine kleine Zugabe auch mit in die Pause rettet und damit ein eindrucksvolles Erlebnis schafft.
Nach der Pause steht dann eine der bekanntesten Sinfonien russischer Romantik auf dem Programm. Tschaikowskys fünfte kann man getrost als herausragende Komposition bezeichnen. Besonders bekannt ist sie für ihr episches Finale und für ihren Bezug auf Beethoven – mit dessen Fünfter Sinfonie teilt sie sich auch den Titel „Schicksals-Sinfonie“. Und ähnlich, wie sein Vorgänger folgt auch Tschaikowsky hier einem bekannten Topos: Von Dunkelheit zum Licht.
Der Rezensent möchte an dieser Stelle betonen, dass er diese Sinfonie sehr schätzt und sie ihm grundsätzlich eine der liebsten Kompositionen von Tschaikowsky ist. Er erkennt in diesem Werk viel Potenzial und Kraft, die es durch richtige Akzentsetzung zu entfalten gilt. Und genau daran hapert es heute. Mit Măcelaru, der schon vor der Pause ab und an den sensiblen Umgang mit den Partituren vermissen ließ, gehen hier nun völlig die Pferde durch. Der Einstieg in den ersten Satz über das Klarinettensolo mit dem Hauptthema gelingt noch, dann aber treibt er das Orchester immer mehr an, bis schließlich sogar die Klarheit der Themen leidet. Die Folge: Ab der Hälfte wirkt der Satz gänzlich vergaloppiert. Die in dieser Aufführung durchgängig zu leisen Trompeten enttäuschen zusätzlich. Immerhin fängt eine schön kräftige Horngruppe mit engagierten Posaunen und solider Tuba diesen Umstand ein wenig auf.
Leider ist das Ergebnis in Sätzen 2 und 3 nicht besser. Zwar beginnt der Einstieg in Satz 2 sehr einfühlsam und dank individueller Klasse am ersten Horn, an der Oboe und der ersten Klarinette auch ergreifend. Aber als es ins Tutti geht, versprüht Măcelaru auch hier wieder unnötig Hektik. Die prägt dann auch den dritten Satz, der nach Meinung des Rezensenten der enttäuschendste Teil an diesem Abend ist. Es ist, als würde Măcelaru nur 3 Tempi kennen: Adagio, Andante und Presto. Alles dazwischen scheint ihm auf seinem inneren Metronom abhanden gekommen zu sein.
Dass dieser Tschaikowsky nicht ganz und gar zum Reinfall wird, liegt vor allem am letzten Satz, in dem das Orchester dann doch brillieren darf. Hier fühlt man sich wieder an die mehr oder weniger überzeugende Vorstellung von Rachmaninow erinnert und das Finale gerät dank besonders brillierender Streicher und erneut starker Bläser fast feierlich. Immerhin ein Lichtblick bei dieser Interpretation.
Das Publikum dankt diese Vorstellung mit Applaus und einigen Bravo-Rufen in Richtung Hörner und Klarinetten. Der Rezensent aber zeigt sich von der aktuellen Form dieses Orchesters enttäuscht. Es ist nicht das erste Mal, dass er in Măcelarus „jugendlichen Drang“ zu viel Hektik entdecken und gleichzeitig die Abwesenheit von geschickten Akzentuierungen und Timing bemängeln muss. Wenn man bedenkt, wozu dieses Orchester vor der Pandemie unter Jukka-Pekka Saraste fähig war, muss man schon die Frage stellen, ob da nicht langsam ein Niveauverlust feststellbar ist. Es ist jedenfalls schon eine Zeit lang her, dass der Rezensent das letzte Mal glücklich und zufrieden aus einer Veranstaltung des WDR Sinfonieorchesters gegangen ist. Corona hin oder her.
Daniel Janz, 6. Februar 2022, für
klassik-begeistert.de und Klassik-begeistert.at
WDR Sinfonieorchester, Christian Măcelaru Kölner Philharmonie, 30. Oktober 2021