Weihnachts-Satire
Fotos: YouTube (c): Die Moderatorin Judith Williams und der Tenor Jonas Kaufmann in der Verkaufssendung des Online-Shopping-Kanals HSE24
Wer kurz vor dem Fest noch auf der Suche nach einem stimmungsvollen Geschenk war, wurde vielleicht auch auf dem Online-Shopping-Kanal HSE 24 fündig. Dort wurde unter anderem Jonas Kaufmanns Weihnachts-Doppel-CD it’s Christmas! feilgeboten (https://www.youtube.com/watchv=k3UhnV4PUAw&feature=emb_logo). Der Startenor präsentierte mit der Unternehmerin Judith Williams dort und auch in der „Bunten“ (Heft 50/2020) Weihnachtliches. Unsere davon inspirierte kleine empirische Satire wirft einen Blick in die Backstube und die Sendung mit den beiden.
von Dr. Andreas Ströbl
Winterstürme weh´n weit vom Wonnemond und ich liege am 4. Advent nach einer Ladung köstlicher Kipferl auf dem Biedermeier-Diwan. Frühe Dämmerung schließt mir die vom Jahre müden Augen, und ich kuschele mich wie Wagner in der Villa Wahnfried in schweren roten Samt. Die einführende Pastorale aus Saint-Saëns´ hinreißendem Weihnachtsoratorium tönt im Hintergrund, und die Hirten ziehen vor meinem inneren Blick gen Bethlehems Stall. Die Szenerie verschwimmt, und ich sinke in sanften Schlaf. Plätzchen-Duft erfüllt die blaue Stunde und lässt mich träumen…
…Ich stehe in einer Küche und beobachte eine Dame im weihnachtlich-rotem Kleid und einen bärtigen Mann. Die beiden backen – Vanillekipferl! Vor ihnen liegt ein Blech mit den mürben Monden und wartet auf die Wärme des Ofens.
Ist die Dame ein Engel oder Maria in ungewohnt nicht himmelsblauem Gewand? Ist der Mann St. Nikolaus? Nein, das ist ja Jonas Kaufmann mit Schürze! Oder auch Thomas oder Jussuf Kaufmann, wie ihn ein Moderator eines Kultursenders nannte. Und die Dame in Rot ist die Unternehmerin und Opernsängerin Judith Williams. Beide fuhrwerken wie im Kinderlied von der Weihnachtsbäckerei mit mehlbestäubten Händen emsig umher und rühren, kneten, stechen aus… Vor allem aber grinsen sie, als sei in den Plätzchen noch was anderes drin als nur das, was Omas Backbuch verrät. Safran?
Szenenwechsel: Ich stehe in einem Fernsehstudio und beobachte wieder. Ich kann mich nicht regen, und der heimelige Duft von Plätzchen ist futsch. Da sind sie wieder, die beiden Gestalten. Das Kleid der Dame ist noch röter als die Nase von Rentier Rudolph. Sie trägt goldene Schuhe, für das Ersteigen der Himmelsleiter farblich perfekt, wenn da nicht die hohen Stöckel wären. Judith und Jussuf, er diesmal ohne Schürze, dafür in schwarzem Anzug, sitzen auf riesigen Kipferln, hinter ihnen glitzern Kugeln in kaltem grausilbernem Glanz von akkurat konischen Christbäumen. Im Hintergrund prangt über dem Namen des Tenors wie der Stern über dem Stall ein Logo: HSE 24. Was raten mir die Runen? Die „24“ ist eindeutig – es weihnachtet hier ja sehr, wenn auch etwas frostig im Design. Aber die großen Lettern? „Hier sind Engel“? Oder „Heilig sei Er“, also Er, der da sitzt im Studio der Verkündigung?
Jonas Kaufmann, it’s Christmas!, der Tenor singt 42 Weihnachtslieder klassik-begeistert.de
Meine Beine sind völlig unbeweglich, wie froststarr, und mich ergreift ein Gefühl der Beklemmung. Irgend etwas in mir flüstert: „Lauf weg, lauf! Das ist kein Ort für dich!“ Aber ich vermag mich nicht zu regen. Und nun wird mir klar, weshalb mir die innere Stimme zum Laufen riet wie der Engel zur Flucht nach Ägypten. Was folgt, kitzelt später der Psychiater aus mir heraus, weil ich alles verdrängt hatte. Die Psyche ist bekanntlich in der Lage, in Sekunden Vorgänge zu träumen, die im Traum selbst wie Stunden oder Tage scheinen. Aber dieser Alptraum währt eine ganze Stunde.
Die Handlung in Kurzfassung: Wo „Kaufmann“ draufsteht, ist in diesem Falle auch ein Kaufmann drin. Der wohlgeübte Sänger ist auch ein versierter Verkäufer, und die jubelnde Judith assistiert ihm begeistert beim Lobpreisen seiner wunderlichen Weihnachts-CD mit geschätzten 240 Weihnachtsliedern aus Himmel und Hölle. Auf dem Cover bläst ja der Sänger den blendenden Sternenstaub dem noch zweifelnden Käufer ins Gesicht wie das DDR-Sandmännchen den Kindern den Sand aus der VEB-Glotze ins Wohnzimmer, um sie nicht irre werden zu lassen am Sozialismus, den ja weder Ochs noch Esel aufhalten sollten.
Doch der Traum geht weiter: Jonas singt und lacht, und Judith tut desgleichen. Wie auf dem Hamburger Fischmarkt gibt es noch weitere gute Gaben obendrauf, und so wird der Bildband feilgeboten mit farbigen Photos des tollen Tenors – die Leute können anrufen und (online) bestellen. Eine Bildserie zeigt Jonas als Bajazzo mit rotgeschminktem Mund, wobei der Lippenstift es locker mit Judiths Robe mithalten kann und über den Mund hinausgeschmiert dem Joker selbst die Show stiehlt. Und noch was gibt´s drauf: die exklusive Autogrammkarte, mit SEINEM Namen! Gelobet sei das, was Heinrich Böll einst die Bettelei der Reichen nannte: die Werbung! Denn sonst müssten Jussuf und Judith den ganzen Tag alleine den himmlischen Klängen lauschen, und die Menschen Seines Wohlgefallens dürften nicht teilhaben an Weihnachts-Mega-Monster-Hits wie „Jingle Bells“, „Winter Wonderland“ oder „Let it snow“.
Erneuter Szenenwechsel: Ich stehe wieder wie festgetackert in einer Kirche und St. Jonas singt. Ein Knecht Klampfe begleitet ihn und zwei Jungfrauen im Dirndl steh´n betend davor. Und wie der Schriftzug über der Krippe preist unablässig der kleine Block am unteren Bildrand den Bildband und die Autogrammkarte. Vor allem preist er ihn aus. Und die Telephonnummer zum Verkaufssender HSE 24 gibt´s gratis dazu!
Mein Unterbewusstsein wehrt sich, ich muss laut geschrien haben, denn meine Frau rüttelt mich wach aus dem tiefen Traum mit den teuren Dingen. Ich reibe mir die Augen und schaue in das dunkle Zimmer, das nur erleuchtet ist vom Adventskranz mit den glitzernden Kugeln. Die schimmern blau und golden, nicht silbern und grau. Ich versuche, die Schemen zu vergessen, aber ich werde meinem Psychiater davon erzählen müssen.
Tage später blättere ich in seinem Wartezimmer in der „Bunten“, denn der „Spiegel“ datiert in den Sommer und „Essen und Trinken“ ist geklaut. Wahrscheinlich war ich das selbst vor der letzten Sitzung. Und die „Bunte“ offenbart, dass ich keinen Dachschaden habe, sondern zum Zweiten Gesicht neige: Ganze drei Seiten zeigen Judith und Jonas in der Plätzchen-Küche. Meine Frau wird mir später offenbaren, dass mein Unterbewusstsein den Werbekanal HSE 24 empfangen kann, denn sie zeigt mir die Sendung im Internet.
„Bunte“-Leser wissen mehr.
Dr. Andreas Ströbl, 23. Dezember 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Der Archäologe und Kunsthistoriker Dr. Andreas Ströbl (geboren 1964 in Hersbruck/Pegnitz) liebt seit seiner Kindheit das, was „Klassik“ genannt wird, sich aber von Striggio bis Saariaho erstreckt. Sein Gott heißt Gustav Mahler, aber er machte auch frühe Drogenerfahrungen mit Wagners Werk. Wenn er nicht gerade in Grüften und Mausoleen forscht, geht er mit seiner Frau Regina in die Oper oder Konzerte, wann und wo immer es möglich ist. Die beiden wohnen in Lübeck, aber ihre gemeinsame Arbeit und Musikleidenschaft führen sie mitunter an entlegene Ecken. Andreas Ströbl schreibt seit dem Frühjahr 2020 für „Klassik begeistert“.