Der große Rausch – Daniel Barenboim dirigiert die Berliner Philharmoniker

Werke von Gabriel Fauré, Richard Wagner und César Franck, Daniel Barenboim, Elīna Garanča  Philharmonie Berlin, 3. Juni 2023

© Peter Adamik, Daniel Barenboim

Philharmonie Berlin, 3. Juni 2023

Gabriel Fauré: Pelléas et Mélisande
Orchestersuite op.80

Richard Wagner: Wesendonck-Lieder

César Franck: Symphonie d-Moll

Berliner Philharmoniker
Elīna Garanča, Mezzosopran

Daniel Barenboim, Dirigent


von Kirsten Liese

Er steht wieder, kerzengerade. Am ersten Abend seiner jüngsten Konzertserie mit den Berliner Philharmonikern hatte man ihm noch wie zu seinen letzten Konzerten einen Stuhl auf das Podium gestellt. Aber den wollte der Altmeister nicht. So kennen wir Daniel Barenboim, als einen Willensstarken, der sich immer das Höchste abverlangt, einen Marathon-Mann, der sich über viele Jahre mit Irrsinns-Projekten stark verausgabt und Rekorde aufgestellt hat. Und der selbst gesundheitlich angegriffen und im hohen Alter seinen Ehrgeiz nicht begraben hat, obwohl er sich nun wirklich nichts mehr beweisen muss.

Das Berliner Publikum liebt ihn, sicherlich nicht nur dafür, sondern überhaupt für seine enorme Lebensleistung, und so empfängt es den Weltstar auch am letzten der drei Abende schon zu Beginn mit einem derart überwältigenden Beifall, wie ich es selten erlebt habe.

Unter den Solisten der Berliner Philharmoniker versammelt sich mit Emmanuel Pahud (Flöte), Albrecht Mayer (Oboe), Dominik Wollenweber (Englischhorn), Stefan Dohr (Horn), Noah Bendix-Balgley (Konzertmeister) und Bruno Depelaire (Solo-Cello) die erste Garde, und das ist angesichts der ausgewählten Stücke, in denen vor allem die Bläser viel beschäftigt sind, kaum verwunderlich.

Schon in Faurés Orchestersuite Pelléas et Mélisande schlägt die große Stunde des Albrecht Mayer, der im Prélude und dann in der bezaubernd romantisch-idyllischen Sicilienne, umsponnen von silbrigen Klängen der Harfe, seine eingängigen Melodien mit jenem warmen, runden, schönen Klang anstimmt, für den man diesen Musiker so sehr schätzt.

Auch Stefan Dohr musiziert wieder einmal so phänomenal perfekt, dass ich geneigt bin, ihn als besten Hornisten der Welt zu deklarieren. Zuverlässig sauber und makellos stimmt er seine Rufe schon im ersten Satz an, brillant und golden tönt sein Instrument, und das selbst dann noch, wenn sehr leise musiziert wird wie im letzten Satz der programmatischen Suite, dem Tod der Mélisande. Das ist bekanntlich auf diesem Instrument nicht einfach. Für Dohr scheinen dynamische Abstufungen keine Herausforderung darzustellen, bei ihm tönt jeder Ansatz perfekt!

Am Pult setzt Daniel Barenboim seinen minimalistischen Altersstil fort. Mit den Berlinern klappt das, man kennt sich lange genug, mitunter reicht ein Blick zu den Bratschen oder zweiten Geigen, um ihnen zu signalisieren: ein bisschen weniger.

Im Zentrum des Konzerts stehen die Wesendonck-Lieder von Richard Wagner, den Fauré und der in der zweiten Hälfte noch folgende César Franck eigentlich nicht mochten, wiewohl sie sich dem Einfluss von dessen Tonsprache nicht entziehen konnten.

Mit Elīna Garanča hatte man hier zweifellos eine bewährte, gefragte Solistin an Bord, die wie schon in früheren Konzerten (u.a. unter Christian Thielemann in Salzburg) mit kultivierter Vortragsweise und vor allem dem  fülligen Wohllaut ihrer Stimme betörte.

Und wiewohl auch Barenboim sie mit sehr sensiblen Antennen begleitete,  befriedigte mich Garančas Interpretation nicht restlos. Farblich tönten alle Lieder irgendwie gleich und ziemlich unterkühlt.

Unwillkürlich kam mir eine Anekdote in den Sinn, die Riccardo Muti einmal von der ersten Begegnung Toscaninis mit der berühmten Maria Callas erzählte. Sie ereignete sich vor langer, langer Zeit auf einer Probe zu Spontinis Vestalin in der Mailänder Scala.  Toscanini sagte am Ende der Probe nur drei Worte zu der Diva: „Signora, le parole!“ Zu Deutsch: Signora, die Worte!

Will heißen: Selbst die Primadonna Assoluta, die sich bekanntlich mit großer Leidenschaft für ihre Rollen verzehrte, wurde der Einschätzung des Maestros nach dem Text nicht gerecht. Toscanini vernahm nur Schönklang, der Sinn der Worte blieb unterbelichtet.

So geht es mir mit Garančas Lied-Interpretationen.

Vor allem in den Liedern „Im Treibhaus“ und „Träume“ verarbeitete Wagner in seiner unerfüllten Liebe zu Mathilde Wesendonck Motive zu seinem Tristan. Die unerhörte Sehnsucht nach der anderweitig verheirateten Frau höre ich aus der Interpretation der berühmten Lettin nicht heraus. Gewiss, ja, sie hebt einzelne Wörter bedeutsam hervor, aber damit ist es nicht getan, eine tiefere Durchdringung des Textes in Ausdruck und Farbgebung kann ich nicht ausmachen. Dies übrigens auch schon im ersten Lied „Der Engel“, wo einem eigentlich in dem Vers „Hört’ ich oft von Engeln sagen“ das Herz aufgehen müsste.

Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie Fischer-Dieskau in einer seiner Meisterklassen mit einer Elevin an diesem Lied arbeitete. Allein an der Farbe. Eine Helligkeit wie zum Öffnen eines Himmelstors müsste da eigentlich aufscheinen. Garanča crescendiert auf dem Wort Engeln, blüht groß auf, auf der Gefühlsebene aber bleibt sie die kühle Sängerin.

Francks beliebte d-Moll-Symphonie schließlich bildete den triumphalen Abschluss dieses Abends. Wenn die Musik da in den prägnanten Themen im ersten und letzten Satz groß in Fahrt kommt, ist Barenboim sichtlich in seinem Element, auch wenn sein Körper nicht ganz so stark scheint wie sein Geist. Streckenweise findet er Halt am Rückengeländer.

Dem Sog des Hauptthemas im ersten Satz der Sinfonie nach der langsamen Einleitung mit seinen hohen Klangwogen, entsprechend emphatisch von Orchester und Dirigent angegangen, konnte sich wohl aber keiner entziehen. Ungemein mitreißend gelang das wie auch im letzten Satz. Und da zwischen dieses wunderbare, melancholisch angehauchte Englischhorn-Solo im zweiten, von Dominik Wollenweber wunderbar zärtlich ausgeführt – einfach toll!

Überhaupt zeigten sich hier alle stark beschäftigten Solisten noch einmal in Topform, wobei es eine wahre Wonne zu erleben ist, wenn die Instrumente ein Thema wie einen Ball an den nächsten Kollegen weitergeben und der es mindestens genauso schön spielt.

Der letzte Satz, Allegro non troppo, bescherte einen einzigen Rausch.

Und dann gab es – wie fast immer an Barenboim-Abenden – noch einen hübschen, sympathischen Epilog. Zu stehenden Ovationen zerpflückt der Maestro, ganz alte Schule, den ihm überreichten Blumenstrauss und überreicht mit sichtlicher Freude dem Konzertmeister und ausgewählten Musikerinnen des Orchesters eine Blume.

Kirsten Liese, 4. Juni 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Berliner Philharmoniker, Daniel Barenboim, Dirigent, Martha Argerich, Klavier Philharmonie Berlin, 6. Januar 2023

Daniel Barenboim – eine kritische Würdigung Staatsoper Unter den Linden, 6. Januar 2023

Ludwig van Beethovens 9. Symphonie, Daniel Barenboim Staatsoper Unter den Linden, Berlin, 1. Januar 2023

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert