Sternstunde ohne Attitüden – Riccardo Muti leitet die Wiener Philharmoniker

Wiener Philharmoniker, Riccardo Muti, Dirigent  Musikverein Wien, Großer Saal, 23. Mai 2022

Foto: Riccardo Muti (Dirigent) © SF / Marco Borrelli

Musikverein Wien, Großer Saal, 23. Mai 2022

Wiener Philharmoniker
Damen des Singvereins der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

Riccardo Muti, Dirigent

Debussy:  Trois Nocturnes. Symphonisches Triptychon für Orchester und Frauenchor

Berlioz: Symphonie Fantastique op. 14, „Episode de la vie d’un artiste“

von Kirsten Liese

Mittlerweile 51 Jahre währt die Zusammenarbeit zwischen den Wiener Philharmonikern und Riccardo Muti.  Und diese Kontinuität führt immer wieder zu einmaligen Konzerterlebnissen vielfältigster Art, erinnere ich mich nur an Wiedergaben von Bruckners Siebter, dem Verdi Requiem, Beethovens Neunter oder zuletzt der Missa Solemnis in Salzburg.

Mit Ausnahme noch von Dietrich Fischer-Dieskau ist mir selten ein Künstler begegnet, der überhaupt über eine vergleichbar umfassende Repertoirekenntnis verfügt. So ziemlich alle bedeutenden Werke der Opernliteratur und Sinfonik zählen bei Muti dazu, darüber hinaus Dutzende von kaum bekannten Musikdramen neapolitanischer vergessener Meister.

Der französische Impressionismus liegt dem Italiener, wovon man sich nun überzeugen konnte, ebenso gut. Farbenreich, transparent und filigran tönten  Debussys Trois Nocturnes, bei denen man sich an zarte Tuschezeichnungen eines Édouard Manet erinnert fühlte. Und natürlich an die gleichnamigen Gemälde des Amerikaners James Abbott McNeill Whistler, von denen die Stücke inspiriert sind.

Ganz dünne Pinsel kamen da in den Nuages mit den vielen filigranen Holzbläsersoli zum Einsatz, breitere dann bei den Sirènes mit den stimmungsvollen Vokalisen-Dreingaben des Frauenchors.

Es ist immer wieder faszinierend, Muti beim Dirigieren zu beobachten. Sehr plastisch, schlicht und genau sind seine Bewegungen und Einsätze, jede einzelne Instrumentengruppe hat er im Visier, etwa auch die Kontrabässe, die an diesem Abend mehrfach herausstachen, schon zum Ende der Nuages mit einem düsteren Tremolo.

Gerade aber auch eine derart verträumte, versponnene Musik lebt von dem uneitlen Auftreten des Künstlers.

Divenposen kommen Muti nicht unter. Wie eine Eins steht er auf dem Podium, die Partitur liegt bei ihm stets auf dem Pult. Warum sollte sie das auch nicht? In seiner Autobiografie verweist Muti darauf, dass er vor vielen Jahrzehnten nach einer spöttischen Bemerkung der Klavierlegende Svjatoslav Richter darauf gekommen ist, nicht mehr auswendig zu dirigieren, weil es ihm auf einmal selbst unnötig vorkam, die Partituren, die ihn während der Proben so lange begleitet hatten, zum Konzert zu entbehren. Und so unauffällig, wie er in sie hineinschaut, sieht es ohnehin so aus, als bräuchte er sie gar nicht.

Die viel beschäftigten, blendend disponierten Solisten an Klarinette, Oboe, Englischhorn, Flöte und Fagotten hatten auch in Berlioz’ Symphonie Fantastique  ihren großen Auftritt, dies vor allem in dem schwärmerischen, wohl bekanntesten zweiten Satz  Un Bal.

Träumerisch geht es da zu, aber auch der latente, der Musik eingeschriebene Humor vermittelt sich  in der Weise, wie Muti jedes Phrasenende der Walzerseligkeit betont verlangsamt. Schließlich geht es in dieser programmatischen Musik um die fantastischen, wahnhaften Einbildungen eines verliebten Künstlers.

Wenn es dann in den folgenden Sätzen opulenter, rauschhafter und feierlicher zugeht, dreht Muti freilich auch mal groß auf, dies jedoch ohne Anflüge von Schwülstigkeit. Noch im Fortissimo tönt das Orchester schlank und kompakt. Das Donnergrollen in der Szene auf dem Lande geht einem durch Mark und Bein.

Das der Musik eingeschriebene Augenzwinkern vermittelt sich vor allem natürlich im Hexensabbat mit dem parodistischen „Dies Irae“.  Da höre ich hier und da auch schon mal einen herzhaften Schluchzer der Dame aus der Reihe hinter mir: Cristina Mazzavillani Muti, die Ehefrau des Dirigenten, amüsiert sich köstlich. Und nicht nur sie.

Die Zusammenarbeit  zwischen Muti und den Philharmonikern (in den Proben in italienischer Sprache ist zu hören!), vom Wiener Publikum stark bejubelt, erwies sich einmal mehr als perfekt. 50 Jahre, auf die Orchester und Dirigent zurückschauen können, sind ja auch eine lange Zeit.

Kirsten Liese, 25. Mai 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

7. Opernakademie, Giuseppe Verdis Nabucco, Riccardo Muti, Fondazione Prada, Mailand, 21. Dezember 2021

CD-Rezension: Giuseppe Verdi, Messa da Requiem, Riccardo Muti 1981klassik-begeistert.de

Wiener Philharmoniker, Riccardo Muti, Salzburg, 16. August 2021, Großes Festspielhaus

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