Wiener Philharmoniker / Herbert Blomstedt Dirigent © Marco Borrelli
Großer Jubel entlädt sich wenige Momente nach dem Schlusston im Saal, wobei es berührend ist zu erleben, wie Blomstedt als Hauptperson des Abends lange Zeit Chor und Solisten beklatscht, bevor er sich zum Publikum wendet, um seinen eigenen verdienten Beifall entgegenzunehmen. Viele haben ihre Handys auf ihn gerichtet, wollen noch schnell ein Foto erhaschen. Und ein bisschen war es, als hätte Blomstedt mit diesen kraftvollen Jubelgesängen seine Lebensleistung gekrönt.
Johannes Brahms: Schicksalslied für gemischten Chor und Orchester op.54
Felix Mendelssohn: Lobgesang op.52 – Eine Sinfonie-Kantate nach Worten der Heiligen Schrift für Soli, gemischten Chor und Orchester
Christina Landshamer Sopran I
Elsa Benoit Sopran II
Tilman Lichdi Tenor
Wiener Philharmonikern
Wiener Singverein (Einstudierung: Johannes Prinz)
Leitung: Herbert Blomstedt
Salzburg, Großes Festspielhaus, 30. Juli 2024
von Kirsten Liese
Dieser Mann ist schlichtweg ein Phänomen: Dirigiert nach längerer Pause zu seinem 97. Geburtstag mit den Bamberger Symphonikern vor wenigen Wochen in St. Florian Bruckners Neunte und kehrt nun mit den Wiener Philharmonikern und dem Wiener Singverein für zwei Konzerte zu den Festspielen nach Salzburg zurück.
Noch vor einem Jahr wagte ich kaum zu hoffen, Herbert Blomstedt bei diesem angekündigten Auftritt noch einmal erleben zu dürfen, da musste er gesundheitlich nahezu alles absagen. Aber jetzt ist der dienstälteste Dirigent wieder da und reißt das Publikum mit wie ein Popstar – in einem so hohen biblischen Alter! Nur der Pianist Menahem Pressler, der mit knapp 100 Jahren verstarb, war bei seinen allerletzten Konzerten noch älter. Aber so oder so erscheint es sagenhaft, wie jemand in so hohen Jahren, das ohnehin nur wenige erreichen, solcher Leistungen fähig ist.
Blomstedts sympathische Uneitelkeit, die den meisten bedeutenden Künstlern eher fernsteht, drückt sich schon in seinem Auftreten aus: Gemeinsam mit dem Orchester – also nicht erst nachdem alle schon sitzen – tritt er, am Arm gestützt vom Konzertmeister Rainer Honeck auf und nimmt auf seinem Dirigentenstuhl Platz.
Einen Sonderauftritt braucht er nicht, ihm geht es nur um die Musik. Und das vermittelt sich von den ersten Takten an in Brahms’ Schicksalslied. Die göttliche Unbeschwertheit im Text der ersten beiden Verse von Friedrich Hölderlin, von Brahms kongenial mit beseligenden Klängen vertont, vermittelt sich da auf zauberhafte Weise, man fühlt sich wie in Abrahams Schoß. Das Rezept dafür ist wohl die vom Dirigenten ausgehende ungeheure Ruhe. Man merkt ihm an, wie er das Musizieren mit allen Mitwirkenden als Primus inter pares genießt. Sein sparsamer Alters-Dirigierstil ist inzwischen noch minimalistischer geworden.
Das funktioniert mit einem Spitzenorchester wie den Wienern sehr gut, spürt doch Blomstedt genau, wenn ein Impuls vonnöten ist, sich knifflige Stellen auftun, an denen es zwischen Orchester und Chor bei aller Exzellenz ohne ihn doch einmal wackeln könnte. An anderer Stelle, wenn sich eine Melodie aus den Violinen in den Bratschen fortsetzt, genügt eine schlichte Bewegung für den nahtlosen Übergang.
Vor allem aber seine Dankbarkeit für seine berufliche Agilität und seine große Freude an der Musik erscheinen mir als Motor dieses Konzerts.
Und doch werden wir an diesem späten Abend nicht nur in Zuckerwatte reinster Harmonien gebettet. Wir, die leidenden Menschen, die wir vielfach so hart um unsere Existenz und das Glück ringen, kommen mit all unserem Weh im letzten Vers endlich zu Sprache. „Wie Wasser von Klippe zu Klippe geworfen“, heißt es da inmitten eines aufwühlenden Orchesterstrudels, der wohl kaum jemanden ungerührt lässt, am wenigsten wohl jene, die gerade etwas auszustehen haben. Nur dass man leider hier wie auch im folgenden Lobgesang Mendelssohns beim Wiener Singverein wenig vom Text versteht.
Zum Ausgleich singen die Solisten in Mendelssohns sinfonischer Kantate, allen voran Tenor Tilman Lichdi, mit einer vorbildlichen Wortdeutlichkeit.
Aber wie schafft es der Dirigent, soviel Lebensfreude in den Saal zu tragen, die auf das überwiegend ältere Publikum gleich noch euphorisch abfärbt?
Wird die Musik – insbesondere im Fall von Mendelssohns sinfonischer Kantate mit ihrem feierlich-majestätischen Beginn, eingeleitet von Hörnern und Posaunen – zum Elixier für den Dirigenten oder erblüht sie in solcher Pracht und Harmonie, weil er sie derart energetisch anzugehen vermag?
Jedenfalls fühlt man sich im Lobgesang bis zum Duett der beiden Soprane „Ich harrete des Herrn, und er neigte sich zu mir“ von einer warmen, heilsamen Hülle umgeben, die man am liebsten nicht mehr verlassen würde. Die heilsame, therapeutische Wirkung von Musik fand in diesem meditativ wirkenden, Zuversicht, Trost und Hoffnung verströmenden Gesang ihren Raum.
Wunderbar homogen verbanden sich die sehr ähnlichen, schlank geführten Stimmen von Christina Landshammer und Elsa Benoit mit Linien auf weiten Atembögen.
Dann kommt es atmosphärisch auch in diesem Werk ad hoc zu einer Zäsur, mit dem Wandeln in der Finsternis. Dies ist der große Moment von Tilman Lichdi, der die bange Frage „Hüter, ist die Nacht bald hin“ mehrfach wiederholt, wobei ihm jedes Wort deutlich auf der Zunge zergeht, zunehmend insistierender und schließlich ganz allein ohne jedwede instrumentale Begleitung. Damit ist freilich der dramatische Höhepunkt der Kantate erreicht.
Was für ein Moment der Erlösung darauf, wenn der Chor verkündet, die Nacht sei vergangen. Pures Glücksgefühl und freudiges Gotteslob schließen sich an bis zum ekstatischen Jubel.
Der entlädt sich wenige Momente nach dem Schlusston auch im Saal, wobei es berührend ist zu erleben, wie Blomstedt als Hauptperson des Abends lange Zeit Chor und Solisten beklatscht, bevor er sich zum Publikum wendet, um seinen eigenen verdienten Beifall entgegenzunehmen. Von beiden Seiten gestützt von Konzertmeister Honeck und Johannes Prinz, der den Wiener Singverein einstudiert hat, verlässt der Altmeister das Podium, kehrt aber unter all dem Jubel noch ein zweites Mal zurück.
Viele haben ihre Handys auf ihn gerichtet, wollen noch schnell ein Foto erhaschen. Auch ich hoffe, dass es nicht das letzte Konzert war, das ich unter seiner Leitung erleben durfte. Und ein bisschen war es, als hätte Blomstedt mit diesen kraftvollen Jubelgesängen seine Lebensleistung gekrönt.
Kirsten Liese, 31. Juli 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at