Fotos: © Brinkhoff/Mögenburg
Wolfgang Amadeus Mozart, Don Giovanni (Premiere)
Hamburgische Staatsoper, 20. Oktober 2019
von Guido Marquardt
Jan Bosses Inszenierung zeigt einige interessante Ideen, aber kein durchweg überzeugendes Konzept. Musikalisch ragt vor allem die Orchesterleistung heraus, auch sängerisch ist Erfreuliches zu erleben. Leider bleibt ausgerechnet der Titelpart etwas blass. So wird es nur ein guter Opernabend, aber nichts von wirklich nachhaltigem Eindruck.
Es ist die ewige Geschichte des unsterblichen Eroberers und finsteren Mörders. Don Giovanni erzählt von einer Flucht und einem finalen Tribunal, das ihn letztlich unbeeindruckt und unbeirrt in die Hölle fahren lässt. Der einzige Charakter dieser Oper, der sich seiner stets sicher ist, triumphiert sterbend.
Unversöhnliches Ende
Durch die Wahl der „Wiener Fassung“ ohne Scena Ultima, also ohne diskursive Nachbereitung und Offenlegung der weiteren Pläne der Überlebenden, bleibt das Ende dieser Hamburger Inszenierung unversöhnlich. Mit der Aufführung komplettiert sich der Zyklus aus Mozarts drei Da Ponte-Opern unter George Delnons Intendanz. Nennenswerte Gemeinsamkeiten braucht man zwischen den drei Inszenierungen allerdings nicht zu suchen, sie stehen jeweils für sich.
Junges Ensemble
Einen recht jungen Cast erleben wir an diesem Abend auf der Staatsopern-Bühne, Orts- und Rollendebüts inklusive. Dabei ist insbesondere die Entscheidung für einen jüngeren Don Giovanni ausgesprochen konsequent, wird er doch schließlich als „ausschweifender junger Edelmann“ annonciert.
Immerhin, eine gewisse Kontinuität zur erst acht Jahre zurückliegenden Doris Dörrie-Inszenierung besteht mit der Besetzung von Dovlet Nurgeldiyev als Don Ottavio und Alexander Tsymbalyuk als Komtur, die in denselben Rollen damals wie heute auf der Bühne standen. Viel Mozart- und vor allem Don Giovanni-Erfahrung bringt auch Dirigent Adam Fischer mit, während Schauspielregisseur Jan Bosse mit dieser Inszenierung zwar nicht seine erste Oper auf die Bühne bringt, wohl aber sein Mozart-Regiedebüt feiert.
Verfall und Verzweiflung
Die Inszenierung von Jan Bosse zeigt Verfall, Ver(w)irrung und Verzweiflung. Fassadenfragmente aus unterschiedlichen Epochen sind abgenutzt, beschädigt, beschmiert und marode, Fenster blind oder ausgemauert. Und immer wieder sehen wir die Kulissen auch von hinten, permanent verschieben sich die Elemente in mehreren Kreisbahnen. Einzig der in kalter metallischer Pracht hängende Vorhang in Don Giovannis Festsaal fällt aus dem Rahmen, doch wenn am Ende, mit dem Erscheinen des Komturs, auch er fällt, bleibt nur ein Wandgerippe übrig.
Drehbühne mit Nervpotenzial
Allerdings wird die Drehbühne insgesamt etwas arg strapaziert. Zudem gibt es zwei ganz praktische Aspekte, die nicht als besonders zuschauerfreundlich durchgehen können: Zum einen stören die Betriebsgeräusche immer wieder auch den Gesang, ganz besonders auffällig bei Donna Annas Arie „Non mi dir bell’idol mio“ – zum anderen dreht zwischen dem Bühnenbild wiederholt grelles Scheinwerferlicht in den Zuschauerraum, was einfach körperlich unangenehm ist.
Personifizierte Gratwanderung
Eine androgyne, stumme Figur verkörpert Amor und Tod – manchmal nacheinander, manchmal im Wechsel und nicht immer klar zu benennen. Im ersten Akt ist diese Figur kostümlich ein Doppelgänger Don Giovannis, bis hin zur lippensynchronen und ganglichen Imitation. Im zweiten Akt deckt ein Glitzerfummel die Todesnähe zu, bis im Finale der nackte Tod zur finalen Vereinigung mit Don Giovanni bereit ist. Die Video-Projektion dieser Figur sorgt wiederholt für Redundanz, auch die Gollum-artige Inszenierung am Schluss erschließt sich nicht so recht – für die ambivalente Gratwanderung von Liebe und Tod hätte die Bühnenpräsenz von Anne Müller allemal genügt.
An anderen Stellen sind die Videoprojektionen schlüssiger, wenn sie so etwas wie eine verunklarende Verstärkung erzeugen (das merkwürdige Gesicht als mutmaßlich einziger Zuhörer von Don Giovannis Canzonetta „Deh vieni all finestra“) oder Einblicke liefern, wie es den Figuren (nicht den Darstellerinnen und Darstellern!) eigentlich geht, wenn sie gerade keinen großen Auftritt haben.
Weihnachtsbaumlametta vs. Glitzeranzug
Die Masken, die zu Don Giovannis Fest getragen werden, sind im Wesentlichen Glitzer-Schleier, die ein bisschen so wirken, als würde sich ein Vorschulkind als Weihnachtsbaum verkleiden. Die Lächerlichkeit dieser Kostümierung ließe sich freilich auch als Absicht deuten – denn im Gegensatz zu diesen Partygästen hat Don Giovanni wenigstens den Mut, gleich einen kompletten Glitzeranzug zu tragen. Konsequenz mag manchmal schlechten Geschmack decouvrieren, aber sie ist zumindest nicht verdruckst.
Eine andere auffällige Idee ist die „Halbierung“ der Hochzeitsgesellschafts-Kostüme, die Kleider und Anzüge bei den Personen jeweils vertikal hälftig teilt. Interessanterweise korrespondiert der Nadelstreifen-Look der „Männerhälfte“ mit der Stoffgestaltung von Donna Elviras Hosenanzug. Möglicherweise zeigt das auf, wie Don Giovanni die Frauen sieht: vor der Eroberung im verführerischen Kleid, danach nur noch im nüchternen Geschäfts-Look.
Gute Personenführung
Man merkt der Inszenierung an, dass der Regisseur vom Schauspiel kommt: Die Solistinnen und Solisten sind gut geführt, interagieren recht dynamisch und natürlich miteinander und sind in Bewegung. Erfreulicherweise wird vermieden, sie in Kostüme, Kulissen oder Posen zu zwingen, die ihre gesanglichen Möglichkeiten beeinträchtigen, vielleicht abgesehen von Don Giovannis im Liegen dargebrachter Canzonetta.
Ein bisschen egal …
Doch so bruchstückhaft wie diese Einfälle wirkt auch die ganze Inszenierung. Am Ende ergibt sich eine eher eklektizistisch anmutende Interpretation, die niemandem wehtut, aber auch ersichtlich kein museales Kostümtheater sein möchte. Die zahlreichen Buhs für die Regie am Ende der Aufführung wirkten eher etwas ritualisiert, von echtem Furor war das weit entfernt. Der Beifall des zahlenmäßig etwas stärkeren Publikumsteils war allerdings ebenfalls nur routiniert und höflich, von Enthusiasmus keine Spur.
Dynamischer Orchesterklang
Das Orchester ist mit viel Verve bei der Sache und wird von Adam Fischer zu einer handwerklich ausgezeichneten Leistung geführt. Besonders auffällig ist die präzise dynamische Gestaltung, die keine sängerische Leistung zudeckt, aber auch Druck und Lautstärke entwickelt, wenn es verlangt wird und „Platz“ dafür ist. Die starke Wirkung des Finales ist zu einem großen Teil dem Orchester zu verdanken, das auch die chromatischen Läufe und die wuchtigen Blechbläserstöße zu einer schönen Drohkulisse ausarbeitet und überzeugend die Klammer von der Ouvertüre zum Ende zieht.
Der Chor spielt in diesem Werk nur eine untergeordnete Rolle, ist aber von Eberhard Friedrich auf dem gewohnten Niveau einstellt.
Schmale Kost und komödiantische Souveränität
Andrè Schuen lässt in der Titelrolle die Abgründigkeit und die diabolische Anziehungskraft vermissen, die zur Faszination des Don Giovanni gehört. Stimmlich ist er insbesondere in den tiefen Lagen zu schmal und wirkt stellenweise sogar leicht belegt. Sind zwei oder mehr Stimmen gleichzeitig am Werk, ist es immer wieder Schuen, der nicht recht durchdringt. Schade.
Eine souveräne Leistung als Leporello liefert Kyle Ketelsen ab. Sein Opportunismus und sein Sarkasmus sind dabei immer zwei Seiten derselben Medaille und verlangen von seinem Darsteller komödiantischen Facettenreichtum. Stimmlich klingt Ketelsen kernig und druckvoll. In der Registerarie hat dieser Leporello übrigens die Hände frei: Die eindrucksvollen Zahlen über Don Giovannis Eroberungen sprüht die Amor-Figur als Graffiti auf die Häuserwand, Berechnungen über Durchschnittswerte inklusive (auf Basis der interessanten Festlegung, dass Don Giovanni 33 Jahre alt sei).
Leicht reserviert und schmelzige Höhepunkte
Der Part der Donna Anna ist der wohl ernsthafteste in dieser Oper. Julia Kleiter agiert entsprechend „strenger“. Der dramatische Abgrund ihrer Figur, die substanzielle Verzweiflung, bleiben allerdings eher angedeutet, hier wirkt Kleiters Darstellung etwas reserviert. Stimmlich ist sie dem Part gut gewachsen, auch die Koloraturen gelingen tadellos. Zu den diskussionswürdigen Regieeinfällen gehört übrigens, dass man sowohl sie als auch Donna Elvira zwischenzeitlich die Pistole führen lässt, als stünde sie unmittelbar vor dem Suizid.
Es ist schon etwas ungewöhnlich, wenn ein Ensemblemitglied in einer kleineren Rolle den stärksten Beifall erhält. Doch Dovlet Nurgeldiyev hat sich das an diesem Abend redlich verdient – sein Don Ottavio (inhaltlich eigentlich ein eher undankbarer Spießer-Part) gelingt warm, schmelzig und auch in den Höhen voll und rund. Seine unbedingte Loyalität zu Donna Anna transportiert er überzeugend und seine Arien zählen zu den Höhepunkten des Abends.
Das gilt auch für Alexander Tsymbalyuks Commendatore/Komtur, der ehrfurchtgebietend deklamiert und das abgründige Schaudern des Finales vortrefflich mitgestaltet.
Tragikomisch warm
Federica Lombardi hat auch die Donna Anna bereits gesungen, doch nach ihrem Debüt an der Met konnte sie nun auch in Hamburg als Donna Elvira komplett überzeugen. In dieser tragikomischen Rolle kann sie ihr großes Stimmvolumen und ihre angenehm warme Klangfarbe voll ausspielen. Dass sie auch die feinen Differenzierungen beherrscht, zeigt sie spätestens mit der Arie „Mi tradì quell’alma ingrata“. Die Widersprüchlichkeit, mit der Don Giovanni Liebe und Hass, Bewunderung und Abscheu zugleich evoziert, wird auf der Bühne von dieser Figur komplett verkörpert, und Lombardi setzt das vortrefflich um.
Zerlina hat die Hosen an
Anna Lucia Richter bringt mit ihrem filigranen, feinen Sopran eine angemessen frische Zerlina auf die Bühne. Die Abgründigkeit, um nicht zu sagen: Durchtriebenheit, die ihr durchaus auch zu eigen ist, zeigt die Figur in der „Batti, batti, o bel Masetto“-Arie, in der sie ihren Bräutigam nur scheinbar auf den Führungsthron setzt, während sie selbst doch bei jedem Auftritt dieser beiden die Zügel in der Hand hält. Das ist inszenatorisch beinahe überdeutlich, darstellerisch jedoch subtil genug.
Hingegen ist der Masetto von Alexander Roslavets nicht nur (rollengemäß) ein recht tumber Tor, er bleibt auch stimmlich und darstellerisch eher ohne großen Eindruck.
Eigene Maßstäbe
Die Leistung von Anne Müller als (stumme) Doppelfigur Amor/Tod muss natürlich nach eigenen Maßstäben beurteilt und sollte getrennt von der inszenatorischen Frage nach ihrer Notwendigkeit betrachtet werden. Ihre Präsenz schafft auf jeden Fall den Spagat zwischen Aufmerksamkeit für ihre Handlungen und ihr „eingreifendes Beobachten“ auf der einen und ausreichender Zurücknahme, um nicht von den Hauptfiguren abzulenken, auf der anderen Seite. Und von der Coolness, die sie körpersprachlich mitbringt, hätte man Don Giovanni zwischenzeitlich eine kleine Portion mehr gewünscht.
Fazit: Es ist etwas bedauerlich, dass inmitten eines guten Ensembles ausgerechnet die Titelrolle abfällt. Wenn dennoch unter dem Strich eine Besuchsempfehlung steht, so liegt das auch nicht an der irgendwie unerheblichen Inszenierung, sondern vorrangig an dem vorzüglich eingestellten Orchester. Und natürlich daran, dass selbst ein nur gut durchschnittlicher Don Giovanni immer noch eine der unterhaltsamsten und musikalisch ergreifendsten Opern der Musikgeschichte bleibt.
Guido Marquardt, 20. Oktober 2019, für
klassik-begeistert.de
Musikalische Leitung: Adam Fischer
Inszenierung: Jan Bosse
Bühnenbild: Stéphane Laimé
Kostüme: Kathrin Plath
Licht: Kevin Sock
Video: Jan Speckenbach
Fotografie: Harf Zimmermann
Dramaturgie: Janina Zell
Chor: Eberhard Friedrich
Spielleitung: Birgit Kajtna, Petra Müller
Musikalische Assistenz: Péter Halász
Don Giovanni: Andrè Schuen
Donna Anna: Julia Kleiter
Don Ottavio: Dovlet Nurgeldiyev
Il Commendatore: Alexander Tsymbalyuk
Donna Elvira: Federica Lombardi
Leporello: Kyle Ketelsen
Masetto: Alexander Roslavets
Zerlina: Anna Lucia Richter
Amor/Tod: Anne Müller
Philharmonisches Staatsorchester Hamburg
Chor der Hamburgischen Staatsoper