Rezension des Videostreams: BR Musica Viva
Prinzregententheater, München, Stream am 8. Dezember 2020
Foto: Christian Gerhaher © Hiromichi Yamamoto
Wolfgang Rihm,
Sphäre nach Studie für 6 Instrumentalisten (1993/2002)
Stabat Mater für Bariton und Viola
Male über Male 2 für Klarinette und 9 Instrumentalisten (2000/2008)
Christian Gerhaher Bariton
Tabea Zimmermann Viola
Tamara Stefanovich Klavier
Jörg Widmann Klarinette
Sophia Whitson, Magdalena Hoffmann Harfe
Klaus-Peter Werani, Christiane Hörr-Kalmer Viola
Uta Zenke-Vogelmann Violoncello
Philipp Stubenrauch, Frank Reinecke Kontrabass
Richard Putz, Jörg Hannabach, Guido Marggrander Perkussion
Dirigent Stanley Dodds
von Frank Heublein
Es ist ein langer Arbeitstag. Darin enthalten sechs Stunden unterschiedliche Videokonferenzen. Der Tage hätte früher geendet, hätte ich mich für dieses Konzert ins Prinzregententheater einfinden dürfen. Auf dem Gang dorthin hätte ich mich innerlich eingestellt, freigemacht für das musikalische Erleben. Corona bedingter Konjunktiv.
Heute dagegen bin ich geradeso eben fertig geworden mit dem Essen, alles ist ein wenig hektisch. Jetzt ich sitze wieder vor dem Bildschirm, ziehe mir die guten Kopfhörer über.
Mein Kopf ist blockiert. Selten habe ich eine derartige Situation erlebt. Ich stehe neben mir und beobachte mich selbst, wie ich einerseits fasziniert bin von den Klängen. Der Konzentration der Musiker, ihrem Enthusiasmus. Andererseits ist mein Kopf wie verbarrikadiert. Da geht nichts rein von der Musik. Sie ist wie eine anbrandende Welle, die sich an der Kaimauer bricht. Das „kopflose“ Empfinden der Musik Wolfgang Rihms fällt mir schwer – oder etwa nicht? Ich kann sie mit meinem Bauch, mit meinem Herz so ohne Kopf nur schwer greifen. Zugleich stellt sich eine Faszination dieser Situation ein, ich empfinde mich selbst, die Unzulänglichkeit, aber auch die Musik so nah, so intensiv.
Das für mich tragendste Instrument in „Sphäre nach Studie für 6 Instrumentalisten (1993/2002)“ ist der Flügel. Ein augenfällig starker, Sekunden dauernder Tastendruck von Pianistin Tamara Stefanovich in Nahaufnahme. Das muss doch schmerzen! Keine Zeit, das zu vertiefen, ein Tremolo des hohen C, der äußersten weißen Taste der Klaviatur. Die große Trommel mit einem stumpfen Ton. Die Harfe auch sie im sehr hohen Register. Die Instrumente reagieren aufeinander, antworten, unterbrechen, ich so ohne Kopf empfinde das assoziativ motiviert, so als ob im Gespräch abrupt und eben assoziativ das Thema gewechselt wird. Es ist schwierig, dem Gesprächsverlauf zu folgen. So geht es mir hier bei der Sphäre. Ich möchte den Versuch unter keinen Umständen abbrechen, dazu habe ich unmissverständliches Signal in mir. Die Faszination ist da.
Im Vorfeld habe ich mich auf das Stabat Mater für Bariton und Viola besonders gefreut. Denn angeregt durch den Film „Jesus von Montreal“ von Denys Arcand – ich schrieb hier auf Klassik begeistert schon einmal darüber – bin ich Stabat Mater Fan und freue mich auf jede mir unbekannte Interpretation dieses Textes. Dass Christian Gerhaher singt, ist erwartbar, dass Tabea Zimmermann ihre Viola singen lässt, überrascht mich hingegen. Die jeweils nicht ganz tiefen Lagen beider „Instrumente“ passen toll für mich zusammen. Exzellent meistert der Bariton die schnellen Lagewechsel, die den Schmerz auf eine für mich unbekannt neue spannende anrührende Art ausdrücken. Die Viola untermalt nicht, sie ist sängerischer Gegenpart. Sie antwortet auf den verbal ausgedrückten Schmerz, vertieft ihn, singt ihn ohne Worte fort. Die Anlage als Duett erzeugt eine für mich spürbar intensive Nähe von Musikerin zu Musiker. Diese erhöht meine Hörintensität des Stabat Mater.
In Male über Male 2 für Klarinette und 9 Instrumentalisten (2000/2008) schöpft Wolfgang Rihm den vollen Tonumfang der Klarinette aus. Die Dominanz der Klarinette haftet in meiner klanglichen Erinnerung.
Auch hier verweise ich auf einen anderen Beitrag auf Klassik begeistert, das Interview mit Klarinettist Florian Schüle. All das was er zu den Qualitäten des Instruments sagt, das höre ich hier. Er ist pointiert, besser kann ich es nicht ausdrücken: „Wir haben deutlich mehr als drei Oktaven zur Verfügung. Allein dadurch gibt es unglaublich viele Charakteristika die wir ausdrücken können mit diesem Instrument. Verglichen mit dem Gesang könnte man also sagen, wir haben vom Bariton bis zum Koloratursopran alles drauf und können sogar wild zwischen diesen Stimmlagen hin und her springen.“
Das Erleben der unterschiedlichen Charakteristika fasziniert mich aufs Neue. Das hat nichts mit Verstehen zu tun, der Kopf ist ja blockiert. Die Faszination ist eine körperliche, die sich im Nicht bewegen können, dem starren Starren äußert. Die vergehenden Schlusstöne von Jörg Widmann möchte ich mir nochmal anhören und ansehen. Das sind klang- und tonlose „pft“ Laute. Aber wie erzeugt er die? Ist da eine Klappenbewegung? Ist das ein Laut am Mundstück?
Stanley Dodds dirigiert hochkonzentriert. Ich habe den Eindruck, dass bei den beiden Stücken – das Duett Gerharer Zimmermann kommt ohne ihn aus – eine intensive Aufmerksamkeit zwischen ihm und seinen Musiker:innen besteht. Die Einsätze sind hochkomplex, das fordert dem Dirigenten äußerste Aktivität ab.
Wolfgang Rihms Musik bleibt eine Sphinx, der ich fasziniert erliege. Verstehe ich diese Musik? Muss ich das?
Ab 20. Dezember 2020 stellt der Bayerische Rundfunk das Konzert online zur Verfügung. Ich werde es mir noch einmal anhören. Dann hoffentlich mit entblockiertem Kopf. Ich bin gespannt, was mir widerfährt.
Frank Heublein, 13. Dezember 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-beigeistert.at
Meine Lieblingsmusik, Teil 6: Das Stabat Mater von Pergolesi