Ein persönlicher Nachruf
Foto: Kogge-Gateau ©
von Kirsten Liese
Er war ein besonders vielseitiger großer Musiker, ein begehrter Pädagoge und eine Seele von Mensch. Am 24. Februar ist der Cellist Wolfgang Boettcher im Alter von 86 Jahren in Berlin gestorben.
Die Nachricht von seinem Tod hat mich stark berührt, gerade in seinen letzten Lebensjahren hatte sich unsere langjährige Bekanntschaft besonders intensiviert.
Diese Phase begann, als unser gemeinsamer Freund Eberhard Finke – wie er in Karajan-Zeiten Erster Solocellist der Berliner Philharmoniker – 2016 starb. Wolfgang Boettcher richtete ihm eine ganz wunderbare, liebenswerte Gedenkfeier aus, zu der ihm auch Ideen und Anregungen von mir willkommen waren. Als wenig später seine Kollegin Gudrun Eckle starb, meine Cellolehrerin, und ich ihn bat, auf ihrer Beerdigung einen Satz aus einer Bachsuite zu spielen, zögerte er keinen Moment, ohne überhaupt auf seinen Kalender zu schauen. Er war sich dann auch nicht zu schade, mit einigen von uns Eckle-Schülern noch ein Ensemblestück von Alessandro Stradella zu spielen.
Im Dezember 2019 sah ich Wolfgang Boettcher zum letzten Mal, als wir zwei lange Sendungen anlässlich seines 85. Geburtstags am 30. Januar 2020 für den Deutschlandfunk und den SWR aufnahmen. Bei der Gelegenheit unternahmen wir eine wunderbare, stark bewegende Reise durch sein gesamtes musikalisches Leben.
Seinen Vater, einen bekannten Musikwissenschaftler, verlor der gebürtige Berliner in den letzten Kriegstagen. Seine Mutter verkaufte 1945 auf dem Schwarzmarkt ein silbernes Armband, um dem damals zehnjährigen Wolfgang sein erstes Cello zu kaufen. Es sei ein „seltsames Cello“ gewesen, erinnerte er sich: „Es hatte einen Boden aus Buchenholz, was sehr ungewöhnlich ist, meistens sind die Böden aus Ahorn, aber es war ein schönes Instrument, das ich sehr geliebt habe und später ein Mädchen übernommen hat, das es genauso geliebt hat wie ich.“
Es folgten das Studium bei Richard Klemm und gemeinsame Kammermusik-Aktivitäten mit seiner Schwester Ursula-Trede, die bis ins hohe Alter eine verlässliche Partnerin am Klavier werden sollte. „Wolfgang Boettcher musiziert mit einer sicheren Noblesse und Feinsinnigkeit, wie sie auch seiner Schwester eigen ist, die trotz aller Zurückhaltung lebendig und farbig begleitet“, hieß es 1963 in einer Kritik in der „Berliner Morgenpost“ über ein gemeinsames Konzert.
Der Zweite Preis beim ARD-Wettbewerb, den Wolfgang und Ursula –Trede Boettcher 1958 als Team gewannen, verhalf dem Cellisten zu seinem Durchbruch. Noch im selben Jahr wurde er Mitglied- und wenig später Solocellist der Berliner Philharmoniker in der Ära Herbert von Karajans.
Aus seinen Erinnerungen an diese Zeit hat mich besonders eine Episode berührt, in der das Orchester in Moskau Schostakowitschs zehnte Sinfonie in Anwesenheit des Komponisten aufführte. Karajan habe dieses Konzert „minutiös vorbereitet, um die Sinfonie dem Meister, den er sehr verehrt hat, so zu präsentieren, wie er das wollte“. Das sei ihm offenbar gelungen, meinte Boettcher, konnte er doch sehen, wie Schostakowitsch „dicke Tränen hinter seinen dicken Brillengläsern übers Gesicht gelaufen sind“.
Ein unvergessliches Ereignis waren für den Berliner Philharmoniker Wolfgang Boettcher freilich auch die von Karajan ins Leben gerufenen ersten Salzburger Osterfestspiele 1967, bei denen das Orchester die Möglichkeit erhielt, mit der Gattung Oper vertraut zu werden. Auf dem Programm stand Die Walküre. Am Anfang habe er zu Richard Wagner gar keinen Bezug gehabt, sagte der Cellist, vielmehr anfangs mit seiner Frau zu Hause über so merkwürdige Texte wie „Hojotoho“ gelacht. Aber als dann bei den Proben „die Musik dazu kam, lachte man nicht mehr, dann erschien es ganz unglaublich, was allein in diesem ersten Akt für eine Fülle an musikalischen Ideen, Einfällen und Verarbeitungen ist“.
Als Philharmoniker war Boettcher auch Gründungsmitglied der 12 Cellisten. Und wie dieses damals singuläre Ensemble zu seinem ersten Stück in Originalbesetzung von Boris Blacher kam, erzählte er für mein Empfinden noch schöner als sein Kollege Rudolf Weinsheimer, ohne den es dieses Stück nicht geben würde. Der hatte an einem Regentag auf dem Rückweg von einer Probe „ein junges Mädchen mitgenommen“, die eine Mitfahrgelegenheit per Anhalter suchte und sich als Blachers Tochter Tatjana entpuppte. Gewissermaßen als „Revanche“ für das Nachhause-Bringen wünschte sich Weinsheimer dann, dass Blacher für das Ensemble etwas schreiben solle. Zu Boettcher, den er persönlich kannte, soll Blacher mit dem ihm eigenen Humor dann noch scherzhaft gesagt haben, er musste das Stück schreiben, sonst wäre er den Weinsheimer nie wieder losgeworden, denn „der blieb dran und hat ihn vermutlich jeden Tag angerufen und gelöchert.“
Wolfgang Boettcher verpflichtete sich überhaupt in besonderer Weise der zeitgenössischen Musik. Einige befreundete Komponisten, darunter Aribert Reimann, Giselher Klebe oder Hans-Werner Henze schrieben für ihn.
1976 verließ Boettcher das Berliner philharmonische Orchester, um sich verstärkt solistischen Aufgaben und seinen Studenten widmen zu können. Eine Entscheidung, die ihm sehr schwer fiel, da sie nicht aus Missstimmungen oder Problemen mit Dirigenten oder Kollegen resultierte. Vielmehr war es einfach „ein inneres Zeichen, das sagte: Boettcher, das kannste sehr gut, jetzt mach mal was Anderes in deinem Leben!“ Und es war nicht zuletzt die Verantwortung für seine Schüler, die ihn zu diesem Schritt bewegte, nachdem er von seinem Lehrer Klemm gebeten worden war, seine Klasse an der Berliner Musikhochschule fortzuführen.
Als Solist konzertierte Boettcher unter Sergiu Celibidache, Neville Marriner, Dietrich Fischer-Dieskau und Witold Lutosławski. Eine bislang noch unveröffentlichte Aufnahme mit dem RSO Stuttgart unter Celibidache, in der Boettcher das weniger bekannte Cellokonzert von Paul Hindemith spielt, erscheint mir unter den verbliebenen Tondokumenten ein besonderes Juwel. Ein anderes ist Brahms’ Doppelkonzert an der Seite des Geigers Ulf Hoelscher, ebenfalls mit dem RSO Stuttgart unter Neville Marriner. Klanglich und in der Harmonie der beiden Solisten einfach einzigartig.
Unvergessen bleiben mir auch zahlreiche Kammermusikabende mit dem Brandis-Quartett, dem Wolfgang Boettcher angehörte, und sein Wirken als Juror beim internationalen Cello-Wettbewerb Grand Prix Emanuel Feuermann. Er selbst tat sich keineswegs leicht damit, sich bei den vielen großartigen Talenten entscheiden zu müssen. Umso mehr freute es Wolfgang Boettcher, und das sagte er auch so dezidiert bei unserem letzten Interview, dass oftmals durchaus diejenigen, die keinen Preis gewannen, trotzdem viel größere Karrieren machten als so manche Preisträger, von denen man gar nichts mehr hörte.
Seine Freude an der Musik und über den Erfolg seiner Schüler, von denen es viele in bedeutende Orchester schafften, trug Wolfgang Boettcher bis zuletzt.
Zum letzten Mal telefoniert habe ich mit Wolfgang Boettcher im März 2020, als er mir freudig von der überwältigenden Resonanz auf unsere Sendung berichtete. Bei der Gelegenheit kündigte er mir noch ein Konzert an, das er geben wollte. Es musste wegen Corona leider verschoben werden, der Ersatztermin erreichte mich leider nicht.
Als Berliner und Zehlendorfer hatte er freilich auch einen engen Bezug zu Fischer-Dieskau. Er habe so spielen wollen wie er gesungen hat. Dieskau, der 2012 ebenfalls im Alter von 86 Jahren starb, war überhaupt sein großes Vorbild. Nun ist Berlin um einen weiteren großen Musiker ärmer geworden. Wir werden ihn vermissen.
Kirsten Liese, 27. Februar 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Vielen Dank für diesen persönlichen Nachruf auf Wolfgang Boettcher, einen wunderbaren Menschen und einen ganz großen Cellisten, der mich mein Leben lang begleitet hat.
Tom Pause
Erst heute erfahre ich durch diesen Eintrag vom Tod Wolfgang Boettchers. Persönlich kennenlernen durfte ich ihn erst in höherem Alter, obwohl ich schon vorher viel von ihm gehört hatte. Seine freundliche und zugewandte Art hat mich sofort begeistert, ebenso sein Umgang mit jungen Musikern. Ich bin sehr traurig.
Andreas Hoelscher