Foto: © Wilfried Hösl
2. Akademiekonzert 2018/19, Bayerische Staatsoper,
München, 16. Oktober 2018
Kirill Petrenko, Dirigent
Patricia Kopatchinskaja, Violine
Bayerisches Staatsorchester
Arnold Schönberg, Konzert für Violine und Orchester op. 36
Zugabe: Darius Milhaud, Suite für Violine, Klarinette und Klavier (hier ohne Klavier), 3. Satz »Jeu« mit Andreas Schablas (Klarinette)Zugabe: Jörg Widmann, »Valse Bavaroise« mit Emanuel Graf (Cello)
Johannes Brahms, Symphonie Nr. 2 D-Dur op. 73
von Shari Berner
Schon mit dem Auftreten des Bayerischen Staatsorchesters wird klar, hier betritt ein Orchester die Bühne, das voller freudigem Elan und heiterer Energie steckt. Die Atmosphäre im Raum beginnt sofort zu vibrieren. Mit dem Erscheinen Kirill Petrenkos und Patricia Kopatchinskajas lädt sie sich noch weiter auf. Und das, bevor überhaupt der erste Ton erklingt. Vorfreude ist eben die schönste Freude, und die ist dem Münchner Publikum an diesem Abend überdeutlich anzumerken. Auf dem Programm steht Arnold Schönbergs Konzert für Violine und Orchester.
Dieses erste von nur zwei Solokonzerten des Komponisten, vollendete er im Alter von 62 Jahren. Vorausgegangen waren einige abgebrochene Skizzen und zwei Bearbeitungen von Stücken älterer Komponisten als Vorstudien. Zeitgenössische Kritiken waren gewohnt vernichtend: „Das Stück […] verbindet die besten Klangeffekte eines Hühnerhofs bei der Fütterung, eines lebhaften Morgens in Chinatown und Hornübungen an einem fleißigen Konservatorium. Die Wirkung auf die Mehrzahl der Hörer war die eines Vortrags über die vierte Dimension auf Chinesisch.“ Ähnlich charmant: „Der Geiger schlittert mit seinem Bogen herum, offensichtlich nach Zufall, hält ein, um hier eine Saite zu zupfen und da eine andere zu kneifen. Während das so vor sich geht, ist das Orchester damit beschäftigt, ein Spiel zu spielen, das man Rette sich, wer kann nennen könnte.“
Bei der Beschäftigung mit diesem Konzert sollte man nicht nach den für die Zwölftonmusik typische Reihen suchen. Diese Art des Komponierens entwickelte Schönberg nach der Auflösung tonaler Zusammenhänge und der Etablierung der Atonalität. Dabei gibt es keinen Grundton mehr, Akkorde werden aus ihren funktionalen Zuordnungen gelöst. Eine Reihe aus zwölf gleichberechtigten Tönen bildet die Grundlage für eine Komposition. Diese Reihe kann transponiert, horizontal oder vertikal gespiegelt werden. Dadurch ergeben sich zahlreiche Kombinationsmöglichkeiten. Doch all das sollte beim Hören des Violinkonzerts nicht das Ohr vor dieser großartigen Musik verschließen. „Schönberg braucht weniger das intellektuelle Verstehen, eher das Spüren, Ahnen, Phantasieren.“, meint Patricia Kopatchinskaja. Und wie viel davon gibt sie den Hörern an diesem Abend.
Von der ersten Note an ist sie so präsent, dass man das Bayerische Staatsorchester samt Dirigenten zwar noch als Klangkörper wahrnimmt, aber auf jeden Fall aus den Augen verliert. Kopatchinskaja fesselt den Blick, nicht nur mit ihrem erfrischend weißen Kleid vor der verschwimmenden schwarzen Masse der Orchestermusiker. Auch ihre Mimik und Körpersprache trägt dazu bei, denn Patricia Kopatchinskaja flirtet mit der Musik, wiegt sie wie eine junge Mutter sanft in den Armen, packt sie zuweil grob an und wendet sich ihr dann wieder versöhnend zu. Mal lässig, mal emotional, mal unschuldig, mal trotzig mit dem Fuß aufstampfend. Ihre Technik ist einwandfrei, aber das ist nur ein Bruchteil dieser Darbietung, die Basis sozusagen. Zarte Klarheit, die zu Tränen rührt und kraftvoller Ausdruck, der ins Mark geht, mit fliegenden Haaren und funkelnden Augen, so hinterlässt Patricia Kopatchinskaja in jedem Fall grenzenlose Begeisterung.
Ihre Zugaben machen die Violinistin noch sympathischer. Statt trocken virtuose Kadenzen herunterzuleiern, musiziert sie gemeinsam mit Musikern des Bayerischen Staatsorchesters. Zunächst spielt sie zusammen mit dem Klarinettisten Andreas Schablas, das Publikum bricht wegen des beträchtlichen Größenunterschieds in Gelächter aus. Das verträumte und spielerische »Jeu«, nach dem schweren Schönberg eine gut kalkulierte Wohltat für die Ohren. Ein bayerischer Walzer, der wieder eher Richtung Schönberg und Atonalität weist, rundet die erste Hälfte gebührend ab, gespielt von Kopatchinskaja und dem Cellisten Emanuel Graf.
Nach der Pause ist es Zeit für das Bayerische Staatsorchester, sich beim Publikum wieder in Erinnerung zu rufen. Und welches Werk würde sich dafür besser eignen, als die zweite Symphonie von Johannes Brahms? Obwohl die eingängigen Melodien beinahe populär anklingen, offenbart sich bei näherer Betrachtung doch ein hoher Grad an Komplexität. Unter zügig fließenden Handbewegungen Petrenkos wächst der Klang des ersten Satzes heran. Das Tempo ist zügig, wird aber in den Bläserpassagen so zurückgenommen, dass das Gesamtbild äußerst ausgewogen scheint. Das als Grundlage nehmend schaffen Petrenko und das BRSO eine wunderbare Phrasierung nach der anderen. Dabei werden richtige und wichtige Absätze gemacht. Es ist beinahe so, als würde Kirill Petrenko das Publikum an der Hand nehmen, um gemeinsam mit ihm die Welt der Brahmschen Symphonie zu erkunden. Im zweiten Satz, der mit einer lieblichen Melodie in den Celli beginnt, wird eines besonders deutlich: Auch für die Musiker ist das keine bloße Routine. Stattdessen wird jede einzelne Phrase mit unübersehbarer Sorgfalt zur Vollendung gebracht. Petrenko lockt feinste Nuancen mit einem kaum merklichen Heben der Finger hervor, dirigiert aber auch mit der Faust, wenn es nötig ist. Zum Finale erlaubt er sich sogar einen kurzen Ausbruch aus dem gewohnt geerdeten Bild und springt hoch in die Luft. Voller Stolz auf sein Orchester und diesen Abend bringt er das großartige Werk zum Abschluss. Das Münchner Publikum ergeht sich minutenlang in Applaus und Bravo-Rufen, ohne jedoch durch eine Zugabe belohnt zu werden.
Shari Berner, 17. Oktober 2018 für
klassik-begeistert.de