Foto: Wiener Staatsoper, M. Pöhn ©
Im letzten Feuilleton haben wir mit Wehmut von Künstlerinnen Abschied genommen, mit denen wir auf ganz verschiedene Weise vertraut wurden. Nicht immer waren wir von Anfang an begeistert, in einem Fall war es nötig, das Wertvolle einer Stimme aus meist mittleren Partien herauszuhören. Besonders der Direktionswechsel Ende Juni 2020 brachte einige Veränderungen im Ensemble. An vier Beispielen wollen wir das veranschaulichen.
von Lothar und Sylvia Schweitzer
Vera-Lotte Boecker war 2014 bis 2017 am Nationaltheater Mannheim engagiert, danach drei Jahre an der Komischen Oper Berlin, mit eingeschlossen schon Gastspiele. Unsre erste Begegnung mit ihr erfolgte bei einer Fernsehübertragung der „Carmen“. Ihre Micaëla war unkonventionell, nicht lieblich-süßlich, sondern energisch. „Live“, ohne vermittelnde Tontechnik hörten wir dann die Tugend und die Drusilla in
„L’incoronazione di Poppea“. Im Prolog wusste sie sich als Tugend gesanglich gegenüber Göttin Fortuna zu behaupten, als Drusilla vermissten wir die Wärme, welche die Janowitz im Jahr 1963 ausstrahlte.
Vom Frühbarock der Sprung ins zwanzigste Jahrhundert, Hans Werner Henzes Musikdrama „Das verratene Meer“. Vera-Lotte Boecker stellt eine früh verwitwete Mutter dar, die zwischen ihren Sohn und einen neuen Mann gerät. Wir verstanden vollends ihre Gefühlsregungen, sie gingen uns ans Herz. Nachträglich lasen wir in Henzes Aufzeichnungen, dass dieses Ans-Herz-Gehen ihm sehr wichtig ist. Boecker bot die beste Leistung der drei HauptdarstellerInnen. Der bisherige Höhepunkt war für uns ihre Gilda im März dieses Jahres. Sogar bei einer unsrer liebsten Opern wäre es uns nicht eingefallen, Vergleiche mit früheren strahlenden Interpretinnen zu ziehen. Das sagt alles.
Die aus Thüringen stammende Christina Bock wird auf der englischen Website als lyrische Mezzosopranistin charakterisiert. Als Ottavia in „L’incoronazione di Poppea“ hinterließ sie bei uns weniger Eindruck als in der kleinen Partie der Margret in „Wozzeck“, wo wir übereinstimmend feststellten: „Was für eine schöne Stimme!“ Zu unsrer Überraschung wusste sie mit durchdringendem Mezzosopran uns als Unglücksbotin in Monteverdis „L’Orfeo“ zu erschüttern.
Zu unsrem Bedauern mussten wir bei unsren Recherchen feststellen, dass beide Damen auch nur mehr bis Jänner 2023 in den Besetzungslisten der Wiener Staatsoper zu finden sind.
Slávka Zámečníková – der Name geht jetzt schon geläufiger von unsrer Zunge – begeisterte uns von der ersten Stunde an. In einigen Kritiken war von einer Härte der Stimme zu lesen. Bei ihrer Poppea in „L’incoronazione di Poppea“ hörten wir Leuchtkraft, gegen den üblichen Trend schien Zamečníková mehr auf Helligkeit und Glanz bedacht statt auf Rundung. Gespannt warteten wir auf ihre Euridice in Monteverdis „L’Orfeo“, mussten jedoch dann hinnehmen, dass im Gegensatz zur Gluck-Oper die Euridice bei Monteverdi nur eine kleine Partie ist, was eigentlich der Titel der Oper bereits ahnen lässt. Wir werden in der nächsten Spielzeit bei den Besetzungslisten aufpassen, um ihren Edelsopran wieder zu hören.
Diesmal wollen wir die männliche Seite nicht zu kurz kommen lassen. Der kanadische Tenor Josh Lovell ist schon in der Spielzeit vor dem Direktionswechsel Ensemblemitglied an der Wiener Staatsoper geworden. Es war eine jugendliche Rolle, der Lysander in „A Midsummer Night’s Dream“, in der er sich uns vorstellte. Die larmoyante Partie des Don Ottavio genießt unter Opernkennern oft keine große Achtung. Mit Josh Lovell klang es für uns wie eine Offenbarung. In „L’incoronazione di Poppea“ musste er sich mit drei Kleinrollen bescheiden. Als Noboru in Henzes „Das verratene Meer“ war er als pubertärer Sohn in der Rolle eines Jugendlichen wieder in seinem Element. Auch als Wozzecks Andres war er die Idealbesetzung. Interessant wird seine weitere Entwicklung sein. Mit dem Don Ottavio hat er ja schon eine Brückenpartie im Repertoire.
Lothar und Sylvia Schweitzer, 6. September 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Schweitzers Klassikwelt (c) erscheint jeden zweiten Dienstag.
Lothar und Sylvia Schweitzer
Lothar Schweitzer ist Apotheker im Ruhestand. Gemeinsam mit seiner Frau Sylvia schreibt er seit 2019 für klassik-begeistert.de: „Wir wohnen im 18. Wiener Gemeindebezirk im ehemaligen Vorort Weinhaus. Sylvia ist am 12. September 1946 und ich am 9. April 1943 geboren. Sylvia hörte schon als Kind mit Freude ihrem sehr musikalischen Vater beim Klavierspiel zu und besuchte mit ihren Eltern die nahe gelegene Volksoper. Im Zuge ihrer Schauspielausbildung statierte sie in der Wiener Staatsoper und erhielt auch Gesangsunterricht (Mezzosopran). Aus familiären Rücksichten konnte sie leider einen ihr angebotenen Fixvertrag am Volkstheater nicht annehmen und übernahm später das Musikinstrumentengeschäft ihres Vaters. Ich war von Beruf Apotheker und wurde durch Crossover zum Opernnarren. Als nur für Schlager Interessierter bekam ich zu Weihnachten 1957 endlich einen Plattenspieler und auch eine Single meines Lieblingsliedes „Granada“ mit einem mir nichts sagenden Interpreten. Die Stimme fesselte mich. Am ersten Werktag nach den Feiertagen besuchte ich schon am Vormittag ein Schallplattengeschäft, um von dem Sänger Mario Lanza mehr zu hören, und kehrte mit einer LP mit Opernarien nach Hause zurück.“
Schweitzers Klassikwelt 69: Sie sind der Wiener Staatsoper abhandengekommen klassik-begeistert.de
Schweitzers Klassikwelt 68: Salzburger Festspiele 2015, Fidelio Klassik-begeistert.de