Foto: Christian Thielemann © Terry Linke
6. Abonnementkonzert
Wiener Philharmoniker
Christian Thielemann, Dirigent
Arnold Schönberg „Verklärte Nacht“, op. 4 (Fassung für Streichorchester) (1943)
Richard Strauss Eine Alpensinfonie, op. 64
Musikverein Wien, Goldener Saal, 19. Februar 2023
von Jürgen Pathy
Zu hohe Erwartungen können nur enttäuscht werden. Ein altes Sprichwort, das sich immer wieder aufs Neue bewahrheitet. Bei Christian Thielemann liegt die Latte halt sehr hoch. Noch dazu, wenn der gebürtige Berliner, der zurzeit als heiße Aktie als Nachfolger für Daniel Barenboim an der Berliner Staatsoper gehandelt wird, mit den Wiener Philharmonikern musiziert. Im Musikverein Wien stehen Arnold Schönbergs „Verklärte Nacht“ und Richard Strauss’ „Alpensinfonie“ auf dem Programm.
Ohne Partitur in den Kampf gegen die Natur
„Der dirigiert das alles auswendig“, teilt eine Dame hinter mir im feinsten Wiener Dialekt ihre Bewunderung mit ihrer Freundin. Die ist sicherlich deutscher Herkunft. Deren Dialekt lässt da ebenso keine Zweifel zu, wie die Tatsache, dass man Thielemann in Wien liebt. Bisweilen gar abgöttisch verehrt und auf Händen trägt. Am Ende will man ihn gar nicht mehr ziehen lassen. Drei, viermal lockt man ihn bestimmt wieder auf die Bühne. Vielleicht waren es sogar fünf oder sechsmal.
Das Publikum steht auf jeden Fall Kopf. Nachdem Thielemann es zuvor hat ordentlich krachen lassen, mit der Alpensinfonie, die Richard Strauss 1915 vollendet hat. Ein ziemliches Ungetüm, das es mal zu zähmen gilt. Als „bombastischen Mist“, wie der ein oder andere Kommentar das Werk verreißt, würde ich es zwar nicht bezeichnen. Als große Herausforderung an die Fähigkeiten eines Kapellmeisters aber definitiv. Selbst Christian Thielemann ist da nicht über jeden Zweifel erhaben.
Der falsche Ort
Etwa 130 Orchestermusiker auf der Bühne, volle Besetzung an allen Instrumentengruppen, 7 Pauken gar und noch einiges an allzu ungewöhnlichem Instrumentarium: Windmaschine, Celesta, Kuhglocken. Die im Zaum zu halten, dabei stößt nicht nur Christian Thielemann gelegentlich an seine Grenzen. Auch der Musikverein Wien könnte da womöglich etwas zu klein dimensioniert sein, um diesen bombastischen Angriff auf das Trommelfell ordentlich abzufedern.
Vieles hat Richard Strauss da eingebaut. Meisterlich aus einigen Federn gar „geklaut“, könnte man bösartig behaupten. Vor allem aus seiner eigenen. Die „Salome“, sein „Zarathustra“, und auch der ein oder andere Schelm, der sitzt ihm da noch ein wenig im Nacken. Ausschnitte, die er hier teilweise mit Zitaten aus Wagners „Götterdämmerung“ in Perfektion verwebt. Aber die Wucht, mit der er die Holzbläser im Tutti, samt der kompletten Streicher-Sektion, zum Angriff blasen lässt, die geht auch mal bis an die Schmerzensgrenze – einmal auch weit darüber hinaus. Da kann selbst der „Kapellmeister“ par excellence, wie Thielemann sich gerne nennt, nicht dagegen steuern.
Andere Stärken kann er hier auch viel zu selten ausspielen. Zu wenig Raum und Gelegenheit könnte das Werk bieten, liegt die Vermutung nahe. Hört man allerdings eine alte Aufnahme aus dem Jahr 2001, ebenfalls mit den Wiener Philharmonikern, erhält man den Beweis, dass der Schein nur trügt. Da zündet der Funke sehr wohl. Da schafft es Thielemann, eine ungeheure Spannung aufzubauen. Aus dem Orchester das Allerletzte herauszuholen, zu ziehen, zu drücken, zu kratzen. Dem Berg, den Strauss hier programmatisch in Musik vertont hat, seine Konturen aufzudrängen.
Anfang gut, nicht alles gut
Schönbergs „Verklärte Nacht“ zuvor, die war allerdings wirklich gezaubert, wie auch andere bestätigen. „Tolles timing, wunderbare Farben und Tempi“, um da nur einige Attribute ins Rennen zu werfen, die da gefallen sind. Dass man sich dabei regelrecht fast schon im „Siegfried Idyll“ wiederfindet, kommt nicht von ungefähr. Da schlägt Thielemanns Passion für Richard Wagner richtig durch. Sanft und zärtlich. Gebettet auf einem Klang, den nur wenige so fein spinnen können.
Dass da im Publikum nicht alle so aufmerksam folgen, mag dann anderen Ursprungs sein. „Sie schaut eh schon ganz beleidigt, dass sie da sein muss“, kommentieren die beiden Damen hinter mir ein weiteres Mal. Meinen damit das junge dunkelhaarige Mädchen, das auf dem Balkon seinen Platz gefunden hat. Neben seiner Mutter, die es anscheinend zu allen Abonnementkonzerten der Wiener Philharmoniker mitschleppt. „Schon letztens hat sie nur geschlafen“.
Meckern auf hohem Niveau. Ebenso, wie bei Thielemann, der in Summe halt mehr liefern muss, als nur sauberen Schönklang. „Fleisch mit ordentlich Sauce“, wie er es selbst betitelt, klingt eben anders.
Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 20. Februar 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Wiener Philharmoniker Christian Thielemann Dirigent Musikverein Wien, 17. Februar 2023
CD-Rezension, Vladimir Jurowski, Richard Strauss, Eine Alpensinfonie klassik-begeistert.de
Meine Lieblingsmusik (61): Richard Strauss‘ „Eine Alpensinfonie“ (1915)