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Lärm scheint selbstverständlich zu sein. Viele produzieren ihn folgenlos, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein, die wenigsten scheinen sich daran zu stören ungeachtet dessen, dass Lärm nicht nur die Ohren schädigen kann, sondern auch Stress und Aggressionen aufbaut.
von Kirsten Liese
Ich mag keine Böller und bin deshalb immer froh, wenn Silvester überstanden ist, zumal ich mit den Tieren leide, die sich an diesem Tag zu Tode fürchten und mitunter auch zu Tode kommen wie in diesem Jahr die 21 Affen im Krefelder Zoo. Insofern würde ich es begrüßen, wenn es bei uns in Deutschland so wäre wie in Schweden, wo Normalbürger seit dem jüngsten Jahreswechsel nicht mehr böllern dürfen. Zu meinem Erstaunen habe ich in den Nachrichten vernommen, dass sogar 70 Prozent der Deutschen eine solche Regelung begrüßen würden.
Das verblüfft mich insbesondere deshalb, weil ich bei meinen Mitmenschen ansonsten wenig Verständnis für mein Ruhebedürfnis finde. Seit zwei Jahren nerven mich in dem gegenüberliegenden Lietzenseepark, an dem ich wohne, allabendlich junge Leute, die laut Musik hören, grölen, kreischen, Flaschen zerdeppern und auf dem betonierten Asphalt Basketball spielen. Besonders schlimm ist es im Sommer, wenn es in meiner Wohnung unter dem Dach so heiß ist, dass ich nur bei offenem Fenster schlafen kann. Deshalb bin ich seither sogar dankbar, wenn es mal regnet oder kälter ist, dann habe ich wenigstens die Ruhestörer vom Hals. Wie meine Recherchen ergaben, ist mein Park in Berlin-Charlottenburg nicht die einzige Grünfläche, an der es zu solchen Belästigungen kommt. Das Problem ist wohl bundesweit bekannt. Sogar Stadtwälder und Friedhöfe sollen betroffen sein.
Ich würde mir wünschen, dass die Krawallmacher – und vor allem wenn ihretwegen einmal wieder ein Einsatz der Polizei fällig wurde – Bußgelder zahlen müssten wie Bürger, die falsch parken, sich beim Autofahren nicht an vorgegebene Geschwindigkeiten halten, Schwarzfahren, den Leinenzwang für Hunde oder ein Rauchverbot missachten. Aber dazu fehlt der politische Wille. Die rot-grünen Berliner Abgeordneten, an die ich mich in der Angelegenheit schon wandte, haben mehr Verständnis für die sozialen Bedürfnisse der Krachmacher als für die der Belästigten.
Dagegen verstehen Musikerinnen und Musiker mit Orchesterdiensten mein Bedürfnis nach Stille recht gut, werden doch ihre eigenen Ohren in Proben stark strapaziert. Ein Ort der Begegnung will folglich sorgsam ausgewählt sein: In zahlreichen Restaurants, Cafés und Bistros findet man wegen allzu lauter Beschallung keine Ruhe.
Vor einiger Zeit las ich einen sehr interessanten Artikel in einer Fachzeitschrift über die gesundheitlichen Risiken von Orchestermusikern. Bis dahin war mir nur bekannt, dass Bandmitglieder in Hardrock- und Heavy Metal-Gruppen sowie häufige Discogänger ihre Ohren schädigen und oftmals schon in jungen Jahren schwerhörig sind.
Nun las ich von Bläsersolisten in Sinfonieorchestern, die nach einem Hörsturz oder Tinnitus vor einem tragisch frühen Ende ihrer Karriere standen. Gerade die Holzbläser haben freilich auch einen undankbaren Platz auf dem Podium- direkt vor dem Blech und Schlagwerk. Da kann es schon mal sehr laut werden, zumal bei Proben, wenn gewisse Stellen dann noch mehrfach wiederholt werden. Insbesondere die zeitgenössische Musik bewege sich oftmals in drastischen Phonstärken, war in der Reportage weiter zu lesen, der Autor empfahl den Musikern, bei den Proben Gehörschutz zu tragen.
Längst sind auf meine Ohren zugeschnittene Spezial-Stöpsel auch zu meinen ständigen Begleitern geworden, auch wenn sie leider keine restlose Lösung des Problems darstellen, Lärm nur abdämpfen, aber nicht gänzlich unterdrücken.
In dem Zusammenhang kommt mir in den Sinn, dass es sogar sinfonische Musik gibt, die ich als Zuhörerin wenig mag, weil sie überwiegend ohrenbetäubend laut ist, zum Beispiel die Turangalila-Sinfonie von Messiaen, diverse Stücke von Edgar Varèse oder auch – als einzige unter den Sinfonien des von mir sonst so geliebten Gustav Mahler – dessen Achte, Sinfonie der Tausend, ein Werk in gefühltem Dauerfortissimo. In gewisser Weise zählt für mich auch – wo wir nun im Beethoven-Jahr angekommen sind – dessen Missa Solemnis dazu. An Christian Thielemann, unter dessen Leitung ich dieses Werk zweimal hörte, kann es nicht gelegen haben. Er ist ein wunderbarer Beethoven-Dirigent und hat differenziert dynamisiert wie immer. Aber irgendwie habe ich dieses Chorwerk als sehr wuchtig in Erinnerung.
Dessen ungeachtet haben Dirigenten auf die Interpretation eines Werkes freilich großen Einfluss. Tschaikowskys beseelte Fünfte zum Beispiel liebe ich sehr. Schier Herzrasen aber bekam ich, als Kirill Petrenko diese Sinfonie mit den Berliner Philharmonikern aufführte: unerträglich laut und hart, kaum wiederzuerkennen.
Aber nicht nur unter Musikern, sondern auch unter Publizisten und Schriftstellern bin ich nicht die einzige empfindsame Natur, der die Stille heilig ist – insbesondere bei der Arbeit. Ein ganz besonderer Kandidat war der Literaturnobelpreisträger Thomas Mann, einer meiner Lieblingsautoren. Wenn sich der vormittags dem Schreiben widmete, mussten seine Kinder auf Zehenspitzen durch das Haus schleichen.
Der lauteste Stadtteil in einer Metropole, in den ich mich auf meinen vielen Reisen einmal verirrte, war übrigens Shibuya in Tokio. Dort befindet sich mit „Hachiko“ zwar das Denkmal an einen besonders treuen Hund, der in den 1920er-Jahren noch neun Jahre nach dem Tod seines geliebten Herrchens dorthin an den Ausgang des Bahnhofs kam, um ihn abzuholen. Doch der ungeheure Trubel samt Menschenmassen, Verkehrslärm und lauten Musiken aus den Geschäften belastete mich physisch derart, dass ich ihm schnellstmöglich zu entfliehen suchte.
Aber auch den schönsten Ort der Stille fand ich in Japan, in den Zengärten und Tempeln in Kyoto.
Auch Edda Moser will nicht allerorten permanent beschallt werden. Die Sopranistin berichtete mir einmal, wie sie als erstes, wenn sie in ein Taxi steigt, den Fahrer darum bittet, das Radio abzustellen, „wenn ich Musik hören will, gehe ich ins Konzert“. Als zahlender Kunde hat man in so einer Situation immerhin noch Aussicht auf Erfolg.
Ungleich schneller ist ein Konflikt programmiert, wenn ich in Bahn, Bus oder Flugzeug einen mit seinem Handy verkabelten Sitznachbarn anspreche und bitte, die Bum-Bum-Musik leiser zu stellen. Da trifft man mitunter auf Typen, die auf stur schalten und so tun, als würden sie einen nicht wahrnehmen, blöd glotzen oder provozieren, indem sie die „Musik“ noch lauter stellen. Solche Leute nenne ich Akustikmüller.
Lärm scheint selbstverständlich zu sein. Viele produzieren ihn folgenlos, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein, die wenigsten scheinen sich daran zu stören ungeachtet dessen, dass Lärm nicht nur die Ohren schädigen kann, sondern auch Stress und Aggressionen aufbaut.
Das fällt mir auch auf, wenn ich im Auto unterwegs bin, obwohl man sich dort noch am besten von Radaumachern fernhalten kann. Wenn ich länger an einer Ampel oder im Stau stehe, dringt bisweilen aus den Nachbarautos bei heruntergelassenem Fenster Stampfmusik in Disco-Stärke an mein Ohr. Hält der Stau auf einer Autobahn länger an, kann das, insbesondere bei heißen Temperaturen, sehr unangenehm werden. Nur Autofahren mit Ohrstöpseln – das geht natürlich gar nicht.
Eine Episode in diesem Kontext werde ich nie vergessen, sie ereignete sich vor langer Zeit noch vor dem Mauerfall. Da stand ich mit einer befreundeten Augenärztin und Hobby-Bratscherin im Auto an der Grenze. Neben uns stand auch so ein Wagen, aus dem laut Musik dröhnte. Frau Professor, eine resolute, energische Persönlichkeit, fackelte nicht lange, kurbelte ihre Scheibe runter und rief dem Akustikmüller aufgebracht zu: „Machen Sie das mal ganz schnell aus, das ist Umweltverschmutzung!“
Kirsten Liese, 2. Januar 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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Die gebürtige Berlinerin Kirsten Liese (Jahrgang 1964) entdeckte ihre Liebe zur Oper im Alter von acht Jahren. In der damals noch geteilten Stadt war sie drei bis vier Mal pro Woche in der Deutschen Oper Berlin — die Da Ponte Opern Mozarts sowie die Musikdramen von Richard Strauss und Richard Wagner hatten es ihr besonders angetan. Weitere Lieblingskomponisten sind Bruckner, Beethoven, Brahms, Schubert und Verdi. Ihre Lieblingsopern wurden „Der Rosenkavalier“, „Die Meistersinger von Nürnberg“, „Tristan und Isolde“ und „Le nozze di Figaro“. Unvergessen ist zudem eine „Don Carlos“-Aufführung 1976 in Salzburg unter Herbert von Karajan mit Freni, Ghiaurov, Cossotto und Carreras. Später studierte sie Schulmusik und Germanistik und hospitierte in zahlreichen Radioredaktionen. Seit 1994 arbeitet sie freiberuflich als Opern-, Konzert- und Filmkritikerin für zahlreiche Hörfunk-Programme der ARD sowie Zeitungen und Zeitschriften wie „Das Orchester“, „Orpheus“, das „Ray Filmmagazin“ oder den Kölner Stadtanzeiger. Zahlreiche Berichte und auch Jurytätigkeiten führen Kirsten zunehmend ins Ausland (Osterfestspiele Salzburg, Salzburger Festspiele, Bayreuther Festspiele, Ravenna Festival, Luzern Festival, Riccardo Mutis Opernakademie in Ravenna, Mailänder Scala, Wiener Staatsoper). Als Journalistin konnte sie mit zahlreichen Sängergrößen und berühmten Dirigenten in teils sehr persönlichen, freundschaftlichen Gesprächen begegnen, darunter Dietrich Fischer-Dieskau, Elisabeth Schwarzkopf, Mirella Freni, Christa Ludwig, Catarina Ligendza, Sena Jurinac, Gundula Janowitz, Edda Moser, Dame Gwyneth Jones, Christian Thielemann, Riccardo Muti, Piotr Beczala, Diana Damrau und Sonya Yoncheva. Kirstens Leuchttürme sind Wilhelm Furtwängler, Sergiu Celibidache, Riccardo Muti und Christian Thielemann. Kirsten ist seit 2018 Autorin für klassik-begeistert.de .