Liebe LeserInnen, bitte lesen Sie diese einfühlsame Geschichte über den Musikunterricht in den 1960er- und 1970er-Jahren in Deutschland. Mir kamen die Tränen, als ich diese Zeilen las. Aber zum Glück gibt Barbara Hauters Hauspost auch einen positiven und hoffnungsvollen Ausblick… AS
von Barbara Hauter
Als Corona-Pause diese Woche die Geschichte, wie ein Musiklehrer durch zielgenaue Wurftechnik mit einem halben Kilo Schlüssel zarte Laute aus kindlichen Kehlen locken wollte. Singen war vor einem halben Jahrhundert als Kulturtechnik unter Jugendlichen sehr viel weniger angesagt als heute. Deutschland suchte noch nicht den Superstar, Karaoke war in meinem heimischen Schwabenland als Freizeitbeschäftigung noch nicht angekommen und YouTube zum Mitsingen gab es nicht.
Klar grölten wir zu der ausgeleierten Kassette eines Radio-Mitschnitts Pink Floyds „Another brick in the wall“ im Partykeller der Eltern mit. Aber das galt unserem gestrengen Musiklehrer nicht als Singen. Das hätte schon mindestens ein Schubert-Lied sein müssen. Doch auch er musste einsehen, dass die komplette Klasse an der „Forelle“ gescheitert wäre.
Als angemessener Prüfungsstoff musste also ein Volkslied herhalten. „Drunten im Unterland, ei da istʼs so wunderschön“ riss uns Pubertierende auch nicht wirklich mit. Zudem kam im zweiten Vers eine schöne Jungfrau vor, Grund genug, in kollektives Gekicher zu verfallen. Doch es galt: Jeder musste ans Pult zum Lehrer und vor versammelter Mannschaft eine Strophe vorsingen.
Mehr Demütigung ging nicht. Wer verweigerte, bekam zunächst das Schlüsselbund-Wurfgeschoss an den Kopf. Half das nichts, gab es eine sechs. Ich hatte Angst vor beidem. Ich sang mit hochrotem Kopf kaum hörbar den Refrain vor und durfte mich mit einer drei wieder setzten. Die Verachtung der ganzen Klasse vor so viel Feigheit vor dem Feind, dem Lehrer, schlug mir entgegen. Seither verweigere ich Singen in Öffentlichkeit konsequent.
Bei meiner völlig unrepräsentative Studie im privaten Kreis zu dem Thema Musikunterricht stoße ich auf weitere erschreckende Lebensbeichten. Nicole zum Beispiel. Sie möchte anonym bleiben. Das Liedgut in ihrem Unterricht entsprach dem roten Bremen der 1980er-Jahre, Friedenslieder von den „Moorsoldaten“ bis „We shall overcome“. Nicole sang begeistert und laut mit. Bis die Lehrerin einen falschen Ton detektierte. Die Schuldige durfte fortan nur noch Playback singen.
Ein glückliches Ende nimmt die tragische Geschichte des Trompeten-Meisters der besten Lebensgefährtin von allen. Er sang als Schüler mit Inbrunst im Schulchor. Bis er vom Chorleiter wegen fehlender Musikalität aus dem Chor geworfen wurde. Doch das tat seiner musikalischen Karriere zum Glück keinen Abbruch: Er wurde Professor für Jazz-Trompete an einer renommierten Musikhochschule und gilt in Fachkreisen als einer der besten Musiker Europas.
Ich fürchte, vor 50 Jahren ist eine ganze Generation traumatisiert worden. Liebe Musiklehrer: Wenn Ihr andere Erfahrungen habt, dann ran an die Tasten. Schreibt mir.
Meine musikalische Vita hat zum Glück auch noch eine positive Wendung genommen, als ich meine Tochter bekam. Alle Kinder trällern aus Leibeskräften und mit wunderbar natürlicher Atmung solange sie nicht bewertet werden. Und sie staunen mit großen Augen und noch weiter offenen Ohren, wenn man sie rechtzeitig mit in die (Kinder-) Oper nimmt. Meine Liebe zur Oper habe ich auf die Weise über meine Tochter entdeckt.
Um pädagogisch alles richtig zu machen, fuhren wir das Kind im zarten Alter von vier Jahren nach Zürich ins dortige Opernhaus. „Die Zauberflöte für Kinder“ stand auf dem Programm, stark verkürzt auf die allereingängigsten Melodien und lustigsten Szenen. In der Pause begrüßte zudem die Königin der Nacht in einem glitzernden, rauschenden Sternenkleid die Nachwuchs-Zuschauer im Foyer. Das Kind war begeistert. Und die glänzenden Augen meiner Tochter ließen mich zum ersten Mal erahnen, welche ungeheure Schönheit ich verpasst hatte. Nur, weil ich im Musikunterricht gelernt hatte, dass das Thema Gesang ein schmerzhaftes ist, hatte ich mich der stimmlichen Hochkultur verweigert. Doch so war mein Trauma überwunden. Allerdings schmetterte meine durchaus stimmgewaltige Tochter gefühlt einen ganzen Monat Pa-pa-pa-pa-pa-papapa-papageno. Sie ließ erst davon ab, als wir ihr Humperdincks „Hänsel und Gretel“ servierten.
Übrigens: Ich war vor einiger Zeit in meiner alten Schule zu Besuch. Mir kam dort zu Ohren, der Musiklehrer sei entlassen worden. Schlüsselbund-Wurf-Technik ist wohl keine zeitgemäße Erziehungsmaßnahme mehr.
Barbara Hauter, 15. April 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Anmerkung des Herausgebers – P.S. Mein Gymnasial-Musiklehrer Peter H. warf noch in den 1980er-Jahren mit seinem schweren Schlüsselbund, wenn Schüler sich nicht so verhielten, wie er es erwartete. Gleichzeitig konnte er selbst hingebungsvoll Schallplatten wie „Carmen“ von Georges Bizet und „Penny Lane“ von The Beatles vorspielen – und dabei selbst weinen. Auch er wurde schließlich von der Schule suspendiert. Trotz seines gravierenden Fehlverhaltens hat er mir viele Impulse für klassische Musik und Oper mit auf den Weg gegeben. AS
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Ein sehr schöner und interessanter Beitrag, auch wenn ich das Glück habe, dass ich die Zeit, in der Lehrkräfte noch mit Schlüsseln werfen durften, nicht mehr miterleben musste. Was ich allerdings nicht verstehe, ist warum ausgerechnet Opern wie „Die Zauberflöte“ und „Hänsel und Gretel“ als besonders „kindergeeignete“ Opern gelten. Gerade bei der „Zauberflöte“ ist die Handlung so kompliziert, dass ich diese selbst für ältere Leute als „Anfängeroper“ vollkommen ungeeignet halte. Viel wichtiger: Die Handlungen beider Opern sind meiner Meinung nach überhaupt nichts für Kinder. Ja, „Hänsel und Gretel“ war auch meine erste Oper (mit 3), „Die Zauberflöte“ meine zweite. Trotzdem: Viele Jahre später bin ich der Meinung dass es sehr, sehr viele Opern gibt, die für jüngere und ältere OpernanfängerInnen deutlich geeigneter sind als „Die Zauberflöte“. Zum Beispiel „Il barbiere di Siviglia“. Oder „L’elisir d’amore“. Meinetwegen auch noch „Ariadne auf Naxos“, wenn es partout nicht Rossini oder Donizetti sein sollen. Aber sicherlich nicht „Die Zauberflöte“. Auch nicht „La traviata“, und erst recht nicht „Die Walküre“. Komischerweise sind ausgerechnet das die Opern, die alle immer als erstes angucken wollen…
Johannes Karl Fischer
Die werten Leser werden es nicht für möglich halten. Kinder kann auch „Tiefland“ beeindrucken. Eine Horde teils zu spät Kommender, deren Zurufe eine nicht störungsfreie Aufführung befürchten ließen, verfolgten immer gespannt und wortlos Musik und Handlung. So erlebt in der Wiener Volksoper.
Lothar Schweitzer