Evgeny Kissins Manifestation spielerischer Vollkommenheit und Einfühlsamkeit

NDR Elbphilharmonie Orchester, Thomas Hengelbrock, Evgeny Kissin, BÉLA BARTÓK, GUSTAV MAHLER,  Elbphilharmonie, Hamburg

Foto: C. Höhne (c)
Elbphilharmonie,
Großer Saal, 21. September 2017
Thomas Hengelbrock, Dirigent
Evgeny Kissin, Klavier
NDR Elbphilharmonie Orchester
BÉLA BARTÓK (1881 – 1945) Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 G-Dur
Entstehung: 1930 – 31 | Uraufführung: Frankfurt, 23. Januar 1933 | Dauer: ca. 30 Min.
GUSTAV MAHLER (1860 – 1911) Sinfonie Nr. 1 D-Dur „Titan“
(Hamburger Fassung ohne 2. Satz „Blumine“)
Entstehung: 1888 – 93 | Uraufführung: Hamburg, 27. Oktober 1893 | Dauer: ca. 50 Min.

Darauf mussten Musikfreunde lange warten: Evgeny Igorewitsch Kissin, in Moskau geborener Pianist mit britischer sowie israelischer Staatsangehörigkeit und mit knapp 46 Jahren schon eine Klavier-Legende, kehrte am Donnerstagabend zum NDR Elbphilharmonie Orchester zurück und gab seinen Einstand im Großen Saal der Elbphilharmonie. Im Gepäck hatte er eines der schwierigsten Werke der Klavierliteratur überhaupt: Béla Bartóks 2. Klavierkonzert. Nach der Pause dirigiert Thomas Hengelbrock Gustav Mahlers frühes Meisterwerk, die beliebte Erste Sinfonie.

Für sein intuitives, gefühlvolles und höchst virtuoses Klavierspiel wird das einstige Wunderkind Kissin rund um den Globus gefeiert. Die Auftritte des Russen in Hamburg sind rar und begehrt. Nun spielte er in der Elbphilharmonie Bartóks bei Pianisten wegen seiner technischen Tücken gefürchtetes 2. Klavierkonzert. 1933 uraufgeführt, trifft es mit seiner neoklassischen Grundhaltung, seiner fesselnden Rhythmik und der „Gefälligkeit in seinem thematischen Material“ (Bartók) die unterschiedlichsten Geschmäcker.

Unmittelbar nach Fertigstellung seiner „Cantata profana“ für Doppelchor, Tenor- und Baritonsolo und Orchester begann Béla Bartók im Oktober 1930 mit der Komposition seines Zweiten Klavierkonzerts. In einem Zeitungsbeitrag schrieb er neun Jahre später rückblickend über die Entstehung des Werks: „Mein erstes Klavierkonzert stammt von 1926. Ich erachte es als eine gelungene Arbeit, obwohl die Faktur sowohl für das Orchester wie auch für das Publikum einigermaßen – vielleicht auch sehr – schwierig ist. Deshalb entschied ich mich einige Jahre später, mein zweites Klavierkonzert als Gegenstück zum ersten zu komponieren, und zwar mit wenigen Schwierigkeiten für das Orchester und auch thematisch gefälliger. Diese meine Absicht erklärt den volkstümlicheren, leichteren Charakter der meisten Themen. Mit seiner Leichtigkeit erinnert das Werk sogar hier und da an ein Jugendwerk aus dem Jahre 1905, an meine Orchestersuite op. 3.“

Die dreißig Minuten Bartók gerieten im ausverkauften Großen Saal zu einer Manifestation spielerischer Vollkommenheit und Einfühlsamkeit. Was Kissin an Nuancen, an Farben und Bildern auf dem Steinway-Flügel hervorzauberte, war nicht zu überbieten. Dem Russen unterlief kein einziger Fehler, und er harmonierte phantastisch mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester. Die glücklichen Zuschauer, die eine Karte für dieses Konzert ergattern konnten, dürfen sich am heutigen Freitagabend und am Sonntagabend auf Sternstunden musikalischer Meisterschaft am Piano freuen. Und sicherlich auch noch auf eine Zugabe: am Donnerstag gab Kissin die traumhaft schöne Meditation seines Landsmannes Pjotr Iljitsch Tschaikowski.

Nach der Pause Mahler, die Erste, der „Titan“. Mit der Hamburger Fassung von Mahlers 1. Sinfonie haben Thomas Hengelbrock und das NDR Elbphilharmonie Orchester beim Internationalen Musikfest Hamburg, auf Asien-Tournee und mit ihrer CD-Einspielung schon viel Begeisterung entfacht. Bei den Konzerten in der Elbphilharmonie lagen nun die Noten der bekannteren, späteren Fassung auf den Pulten.

Der sinfonische Erstling des einstigen Hamburger Kapellmeisters hat im Grunde schon alles, was Mahlers Musik so unwiderstehlich macht: Die tief emotionale Ausdruckspalette reicht von „himmelhoch jauchzend“ bis „zu Tode betrübt“, in der Partitur treffen (Volks-)Lieder, Märsche, Ländler, Fugen und Sonaten wie selbstverständlich aufeinander, und man darf in hinreißenden Orchesterklängen vom zarten Schmelz bis zum grandios auftrumpfenden Tutti baden.

All dies gelang Thomas Hengelbrock und seinem Orchester sehr sehr gut. Ja, diesem Klangkörper mit seinen vielen jungen Streichern liegt Mahler hervorragend. Der Böhme Mahler, der im Alter von 15 Jahren nach Wien kam und so wunderbar „wienerisch“ spätromantische bis moderne Kompositionen hinterlassen hat, klang in Hamburg, wo Mahler von März 1891 bis April 1897 wirkte, ausgesprochen wienerisch. Voll und üppig, wenn es sein muss und zart und zerbrechlich, wenn erforderlich.

Ja, da hat der gebürtige Wilhelmshavener schon ganz viel Wien-Gefühl inhaliert – kein Wunder, lebt er doch mit seiner Ehefrau, der Schauspielerin Johanna Wokalek („Barfuß“, „Die Päpstin“) und seinem Sohn abwechselnd in der Hansestadt und in Wien, wo Wokalek am Burgtheater spielt. Diese Mahler-Interpretation dürfte auch der Intendant der Elbphilharmonie und der Laeiszhalle, Christoph Lieben-Seutter, ein waschechter Wiener, sehr genossen haben – das war fast schon so gut wie die Wiener Philharmoniker im Goldenen Saal des Musikvereins. Aber eben auch nur fast so gut, weil vor allem den Blechbläsern noch zu viele Spielfehler unterlaufen.

Hamburger Musikfans wissen es und sind stolz darauf: Gustav Mahler tat zwar nicht die ersten, aber doch die entscheidenden Schritte seiner internationalen Dirigentenkarriere in der Hansestadt. Sechs Jahre lang wirkte er als Erster Kapellmeister am Hamburger Stadttheater und dirigierte beinahe täglich Opern in der Dammtorstraße. Zudem erhielt er eine ausschlaggebende Inspiration zum Finale seiner „Auferstehungssinfonie“ im Michel. Die Zweite Sinfonie des ehemaligen Hamburger Kapellmeisters atmet also den „genius loci“ der Stadt an Alster und Elbe – wenngleich die Uraufführung in Berlin stattfand.

Noch enger mit dem Namen Hamburgs verbunden aber ist die Erste Sinfonie. Denn dieses Werk war es, mit dem sich Mahler am 27. Oktober 1893 im Hamburger Konzerthaus Ludwig als Komponist vorstellte – ein Werk, das er eigens zu diesem Zweck noch einmal gründlich überarbeitete, um nicht zu sagen: neu schrieb.

Abends um 19.30 Uhr hatte sich an diesem Tag ein neugieriges Publikum im knapp vier Jahre zuvor erbauten, 1500 Plätze fassenden Konzertsaal am Millerntor eingefunden. Man erwartete das Eröffnungskonzert einer neuen Reihe von „Populären Konzerten im philharmonischen Stil“, die der Regiments-Kapellmeister a. D. Julius Laube dort organisierte. Seine an diesem Abend durch zusätzliche Musiker verstärkte Kapelle war in der Stadt damals als vortreffliches und im Grunde einziges fest bestehendes Konzertorchester bekannt. Von Laubes Mittwochs-Konzerten war man es auch schon gewohnt, ein Programm geboten zu bekommen, das stets auch Werke der – in Hamburg eher weniger populären – damaligen Moderne (Wagner, Berlioz, Liszt) mit einschloss.

An diesem Abend aber gab es eine wirkliche Novität: Gustav Mahler, der vor zwei Jahren seinen Posten als Erster Kapellmeister der städtischen Oper angetreten hatte, sollte zum ersten (und letzten!) Mal in seiner Hamburger Zeit eigene Kompositionen einer großen Öffentlichkeit präsentieren. Als Operndirigent löste Mahler mit seinen elektrisierenden Interpretationen im Haus an der Dammtorstraße regelmäßig Begeisterungsstürme aus. Aber komponieren sollte dieser Mann auch noch können?

Im ersten Teil des Konzerts gab es zunächst Gewohntes von Beethoven und Mendelssohn zu hören. Wie immer im Konzerthaus Ludwig machte man es sich dazu wohl mit einer Zigarre und einem Bier gemütlich. Mahlers Lieder nach „Des Knaben Wunderhorn“, von denen einige – wie das „Rheinlegendchen“ – daraufhin erstmals erklangen, waren in ihrem volkstümlichen Tonfall ebenfalls noch leicht zu goutieren. Als dann aber ganz am Ende des Konzerts ein fast einstündiges sinfonisches Werk des Opernkapellmeisters Mahler anhob, stellte der ein oder andere Besucher dann wohl doch sein Bier beiseite und hörte genauer hin.

Gleich der Beginn dieses Werks entfaltete eine merkwürdig immaterielle Klangwelt, in der altbekannte musikalische Vokabeln nur mehr als Zitate aufschienen, eine Musik, die mit ihren Stimmungs- und Genrekontrasten wahrhaft originell und unvergleichlich, für die meisten Hörer aber
eben auch unverständlich wirken musste. Immerhin: ein ansehnlicher Teil des Publikums soll am Ende dieses Abends durchaus enthusiastisch „Bravo!“ gerufen haben.

Das 5-sätzige Werk wurde ein Jahr später am 20. November 1889 in Budapest uraufgeführt, wo Mahler mittlerweile Operndirektor war. Die Reaktionen von Publikum und Presse auf diese Novität waren durchaus gemischt. Aus erhaltenen Abschriften einiger Sätze ist ersichtlich, dass hier vieles im Vergleich zu den späteren Fassungen noch ganz anders war, vor allem das Ende des Werks.

Die erste für uns nachvollziehbare Werkgestalt ist dann jene Fassung, die Mahler im Jahr 1893 für die Aufführung in Hamburg bearbeitete. Bereits hier können wir eine Praxis beobachten, die für Mahler lebenslang typisch bleiben sollte: Im unbedingten Willen, die in den Noten liegende Intention für Interpreten und Zuhörer so deutlich wie möglich herauszubringen, hörte er nicht auf, seine Partituren nach Aufführungen zu retuschieren.

Das Publikum in der Elbphilharmonie war nach dem ersten der insgesamt drei Hengelbrock-Kissin-Abende restlos begeistert – vor allem von Mahlers „Titan“. Bravorufe und langes Klatschen zeigten den Musikern, dass sie auf einem sehr guten Weg sind, ein Klangkörper zu werden, der mit den ganz großen Orchestern der Welt mithalten kann. Ein Orchester, dass in der großartigen Architektur der Elbphilharmonie Spitzenleistungen bringt und immer die gigantischen Baukosten von 866 Millionen Euro – Platz zwölf im Ranking der teuersten Gebäude der Welt – im Blick hat.

Andreas Schmidt, 22. September 2017, für
klassik-begeistert.de

 

Ein Gedanke zu „NDR Elbphilharmonie Orchester, Thomas Hengelbrock, Evgeny Kissin, BÉLA BARTÓK, GUSTAV MAHLER,
Elbphilharmonie, Hamburg“

  1. Vielen Dank für all die schönen Konzertberichte, vor allem die aus der Elbphilharmonie. Unter all den Zweiflern und Nörglern ist Ihre Begeisterung für dieses großartige Bauwerk sehr erfrischend. Weiter so!

    Liebe Grüße aus Hamburg
    Susanna Peters

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