„Paul Wittgensteins Familie war sehr vermögend, was ihm ermöglichte, Kompositionsaufträge an namhafte Komponisten zu vergeben, die für ihn Stücke für die linke Hand komponierten. Das berühmteste davon ist Maurice Ravels Klavierkonzert in D-Dur, es wird auch heute noch häufig aufgeführt.“
von Peter Sommeregger
Die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts haben unzählige zumeist junge Menschen das Leben gekostet. Darüber hinaus kehrte auch eine große Zahl von schwer verwundeten Soldaten aus dem Krieg zurück, die einen Arm oder ein Bein verloren hatten, was für jeden einzelnen von ihnen eine schwere Beeinträchtigung ihres weiteren Lebens darstellte.
Traf ein solches Schicksal einen künstlerisch tätigen Menschen, so war der Verlust einer Gliedmaße oft gleichbedeutend mit dem Ende aller Lebenspläne in dieser Richtung. Den jungen Wiener Pianisten Paul Wittgenstein ereilte ein solches Schicksal, er verlor bereits zu Beginn des ersten Weltkrieges den rechten Arm nach einer Schussverletzung.
Wittgenstein, zweitjüngstes Kind einer angesehenen jüdischen Industriellenfamilie in Wien, wurde dort am 11. Mai 1887 geboren. Seine musikalisch begabten und interessierten Eltern führten ein großes Haus, schon als Kind kam Paul Wittgenstein mit Größen wie Gustav Mahler, Arnold Schönberg und Richard Strauss in Berührung, was ihn endgültig zum Klavierstudium ermunterte. Nach Studien bei verschiedenen Lehrern debütierte er 1913 im Wiener Musikverein mit großem Erfolg, wurde aber bereits 1914 zum Militär eingezogen.
Schon bald nach dem Verlust seines rechten Armes entschloss Wittgenstein, sich nicht geschlagen zu geben und seine pianistische Tätigkeit fortzusetzen. Zu diesem Zweck studierte er von ihm selbst für die linke Hand bearbeitete Kompositionen von Bach, Haydn, Meyerbeer, Chopin u.a. ein. Sein blinder alter Lehrer Josef Labor schrieb ebenfalls einige Stücke für Wittgenstein.
Paul Wittgensteins Familie war sehr vermögend, was ihm ermöglichte, Kompositionsaufträge an namhafte Komponisten zu vergeben, die für ihn Stücke für die linke Hand komponierten. Das berühmteste davon ist Maurice Ravels Klavierkonzert in D-Dur, es wird auch heute noch häufig aufgeführt. Unter anderen schrieben auch Benjamin Britten, Paul Hindemith, Sergej Prokofjew, Franz Schmidt teils im Auftrag, teils aus Solidarität für den Pianisten mit Handicap. Richard Strauss schuf für ihn insgesamt drei Kompositionen: das Parergon zur Sinfonia domestica, Panathenäenzug für Klavier linke Hand und Orchester, sowie Übungen für die linke Hand.
Neben seiner pianistischen Tätigkeit leitete Wittgenstein von 1931 bis 1938 am Neuen Wiener Konservatorium eine Klavierklasse. Nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich verlor er seine Stellung und durfte auch nicht mehr privat ohne Bezahlung unterrichten. Schließlich entschloss er sich, über die Schweiz in die USA zu emigrieren. Sein jüngerer Bruder Ludwig, der später zu einem der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts werden sollte, war bereits einige Jahre vorher nach England ausgewandert. Paul wurde 1946 amerikanischer Staatsbürger und unterrichtete neben seiner Konzerttätigkeit bis zu seinem Tod im Jahre 1961.
Es existieren einige Konzertmitschnitte Paul Wittgensteins, in denen man die virtuose Beherrschung des Klavierspiels auch mit einer Hand gut nachvollziehen kann. Vor allem aber ist sein Mut und seine Fähigkeit zu bewundern, trotz einer wahren Lebenskatastrophe eine neue Perspektive zu finden, um seinen Lebensentwurf verwirklichen zu können.
Peter Sommeregger, 3. November 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Ladas Klassikwelt (c) erscheint jeden Montag.
Frau Lange hört zu (c) erscheint jeden zweiten Dienstag.
Schweitzers Klassikwelt (c) erscheint jeden zweiten Dienstag.
Sommereggers Klassikwelt (c) erscheint jeden Mittwoch.
Hauters Hauspost (c) erscheint jeden zweiten Donnerstag.
Sophies Welt (c) erscheint jeden zweiten Donnerstag.
Lieses Klassikwelt (c) erscheint jeden Freitag.
Spelzhaus Spezial (c) erscheint jeden zweiten Samstag.
Der Schlauberger (c) erscheint jeden Samstag.
Ritterbands Klassikwelt (c) erscheint jeden zweiten Sonntag.
Posers Klassikwelt (c) erscheint jeden zweiten Sonntag.
Der gebürtige Wiener Peter Sommeregger (Jahrgang 1946) besuchte das Humanistische Gymnasium. Er wuchs im 9. Gemeindebezirk auf, ganz in der Nähe von Franz Schuberts Geburtshaus. Schon vor der Einschulung verzauberte ihn an der Wiener Staatsoper Mozarts „Zauberflöte“ und Webers „Freischütz“ – die Oper wurde die Liebe seines Lebens. Mit 19 Jahren zog der gelernte Buchhändler nach München, auch dort wieder Oper, Konzert und wieder Oper. Peter kennt alle wichtigen Spielstätten wie die in Paris, Barcelona, Madrid, Verona, Wien und die New Yorker Met. Er hat alles singen und dirigieren gehört, was Rang und Namen hatte und hat – von Maria Callas und Herbert von Karajan bis zu Riccardo Muti und Anna Netrebko. Seit 26 Jahren lebt Peter in Berlin-Weißensee – in der deutschen Hauptstadt gibt es ja gleich drei Opernhäuser, die er auch kritisch rezensiert: u.a. für das Magazin ORPHEUS – Oper und mehr. Buchveröffentlichungen: „‘Wir Künstler sind andere Naturen.‘ Das Leben der Sächsischen Hofopernsängerin Margarethe Siems“ und „Die drei Leben der Jetty Treffz – der ersten Frau des Walzerkönigs“. Peter ist seit 2018 Autor bei klassik-begeistert.de.
Beitragsbild: Von Autor unbekannt – BFMI, CC BY 3.0 nl, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=15859063