„Alles wartete, das Publikum, die Musiker, so wie die Prominenz in der ersten Reihe. Nur Maestro war nicht da. Plötzlich öffnet sich die Tür und ein Bauer in Gummistiefeln betritt die Bühne und sagt: ‚Bei mir auf der Weide steht ein Typ und gibt meinen Kühen Whiskey und behauptet er ist Leonard Bernstein.'“
von Radek Knapp, Wien
Das Musikzentrum in meinem Gehirn ist so minimal geraten, dass ich nicht einmal wage, unter der Dusche zu summen. Sogar die einfachste Melodie verwandelt sich in meinem Mund zu einer akustischen Katastrophe. Die Zahl jener Menschen, die deswegen den Raum verließen, ist beträchtlich und steigt laufend. Ich werde auch nie eine Querflöte oder eine Geige spielen und kann mit größter Sicherheit behaupten, sollte ich jemals ein Instrument in die Hand nehmen, dann nur, um es von A nach B zu tragen. Trotzdem oder gerade deshalb war das Universum an meiner musikalischen Weiterbildung interessiert und bescherte mir einen horizonterweiternden Moment.
Eines Morgens sass ich zufällig auf den Stufen des Musikvereins und langweilte mich.
Plötzlich öffnete sich die Tür hinter mir und ein älterer Herr kam heraus. Er sah aus wie ein Buchhalter, der gerade eine kurze Mittagspause einlegte. Er setzte sich nicht weit von mir und zündete sich eine Zigarette an. Dann machte er eine Handbewegung, die die umliegenden Gebäude miteinschloss, und sagte halb zu sich selbst, halb zu mir: „Es ist nicht leicht, in dieser Stadt in die Ferne zu schauen. Finden Sie nicht?“
Er hatte einen eigenartigen Akzent. Wie Tewje, der Milchmann aus Anatevka.
„Deshalb schaue ich nie weiter weg als auf meine Füße“, versuchte ich möglichst geistreich zu antworten.
Der Buchhalter drehte sich zu mir um und betrachtete mich genauer: „Sind Sie wegen der Karten für die Abendvorstellung hier?“, fragte er.
„Überhaupt nicht. Ich sitze nur so da.“ Ich zeigte auf den Musikverein hinter mir: „In dieses Monster gehe ich sicher nicht freiwillig hinein. Da muss man mich schon mit Gewalt hineinschleppen.“
Meine gespielte Abneigung gegen den Musikverein amüsierte ihn aus irgendeinem Grund.
„Warum? Mögen Sie keine Musik?“
„Schon. Aber bestimmt nicht genug, um sich um einen Platz zu prügeln.“
Er nickte ein paar Mal, als hätte etwas von meinem Geplapper einen Nerv bei ihm getroffen.
„In diesem Fall hätte ich eine perfekte Lösung.“ Er holte aus seiner Jackentasche eine CD heraus und reichte sie mir. „Hier, für Sie“, sagte er, „damit Sie auch in Zukunft dieses Haus erfolgreich meiden können.“
Ich nahm die CD entgegen und bedankte mich. Es war bestimmt eine von diesen Werbe-CDs, die der Musikverein in Massen produzierte, um Abonnenten zu ködern. Er hatte bestimmt noch zehn davon in der Tasche.
„Genießen Sie die Aussicht“, sagte er zum Abschied und ging wieder hinein.
Ich sah diesen Buchhalter einen Monat später in einer Fernsehsendung namens „Klassik für Fortgeschrittene“. Er sass zwischen drei alten Vogelspinnen, die aufgeregt mit ihren Perlenketten spielten , ihm Rosen streuten und ihn mit Maestro anredeten. Auf einmal fing eine der alten Vogelspinnen zu erzählen an, wie sie „Maestro“ zum ersten Mal traf. Es war in einem Schloss auf dem Lande, wo „Maestro“ ein Konzert geben sollte. Alles wartete, das Publikum, die Musiker, so wie die Prominenz in der ersten Reihe. Nur Maestro war nicht da. Plötzlich öffnet sich die Tür und ein Bauer in Gummistiefeln betritt die Bühne und sagt: „Bei mir auf der Weide steht ein Typ und gibt meinen Kühen Whiskey und behauptet er ist Leonard Bernstein“.
„Das ist er“, atmete der ganze Saal auf. Leicht verspätet ging das Konzert los. Maestro war an diesem Tag in absoluter Hochform.
Radek Knapp, 25. November 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Ausschnitt aus Radek Knapps neuestem Buch „Zeitlupensymphonien und Marzipantragödien. Notizen eines Möchtegernösterreichers“. Amalthea Verlag, Wien.
Der österreichische Bestsellerautor Radek Knapp, geboren am 3. August 1964 in Warschau, zwangsübersiedelt mit 12 nach Wien (von seinen Großeltern zur Mutter), wo er sich mit Gelegenheitsjobs und einem Philosophiestudium über Wasser hielt. Sein Debut „Franio“ erhielt den aspekte-Literaturpreis, der „Literaturpapst“ Marcel Reich-Ranicki bescheinigte dem Werk „Witz, Pfiff und Humor“, was dazu führte, dass dieser Satz jetzt auf jedem seiner Bücher steht – auch auf dem Roman „Herrn Kukas Empfehlungen“, den man inzwischen sogar in deutschen Schulen vorsetzt. Humorvoll durchaus auch die „Gebrauchsanweisung für Polen“, und „Der Mann, der Luft zum Frühstück aß“. Bekannt wurden auch seine Romane Ente à l’orange und Papiertiger. Radeks Werke wurden in mehrere Sprachen übersetzt, darunter Niederländisch, Kroatisch und Slowenisch. Im Jahr 2008 kam der Film „Herrn Kukas Empfehlungen“ nach seinem gleichnamigen Roman in die Kinos. Der Autor lebt zur Zeit in Wien. Aus schreibtischbedingtem Vitaminmangel verkauft er gelegentlich auf einem Wiener Markt Obst und Gemüse.
https://www.facebook.com/RadekKnapp
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Super geschriebener und informativer Artikel :-). In diesen Blog werde ich mich noch richtig einlesen…
Christopher Seidel