Foto: C. Höhne (c)
The Cleveland Orchestra
Dirigent Franz Welser-Möst
Gustav Mahler, Sinfonie Nr. 6 a-Moll
Elbphilharmonie Hamburg, 25. Oktober 2017
von Sebastian Koik
Von den ersten Takten an hat man ein Grinsen im Gesicht! Das amerikanische Gastorchester und die gewaltige Komposition von Gustav Mahler packen einen sofort. Da ist Zug drin. Alle spielen sehr schnittig, besonders die Streicher und die Perkussionisten samt Becken fallen positiv auf. Die Holzblasinstrumente erklingen himmlisch weich. Die Instrumentalisten reißen mit und man kommt aus dem Grinsen nicht mehr raus. Das ist überwältigende Musik – und das Cleveland Orchestra präsentiert sie überwältigend.
Der Dirigent Franz Welser-Möst geht in der Musik auf. Manchmal breitet er seine Arme wie ein Adler aus und man bekommt das Gefühl, dass er gemeinsam mit der Musik anheben möchte. Es ist offensichtlich: Dieser Mann liebt Musik!!!
Die Glücklichen, die dieses Konzert miterleben dürfen, bekommen gigantische Spielfreude zu hören. Die Komposition und ihr Vortrag sind spritzig und bersten fast vor Leben und Kraft!
Als man zwei Musiker sieht, die sich von der Bühne schleichen, fragt sich mancher Zuschauer vielleicht, ob die beiden Herren vielleicht Pause machen oder sich erleichtern müssen. Das Rätsel wird bald gelöst: Sie läuten die legendären Kuhglocken, die Gustav Mahler mit dieser Sinfonie in die Musikwelt einführte, aus dem „Off“ hinter den Bühneneingängen zu beiden Seiten. Eine schöne Idee, die diesen Klängen etwas Fernes und Traumhaftes gibt. Das Paradies, das da anklingt, ist nicht hier, sondern woanders.
Die Musik hat so viel Drive und geht so sehr nach vorne, dass so manch einer im Publikum vielleicht am liebsten mitmarschieren möchte. Das Orchester ist beeindruckend laut. Die Amerikaner lassen einen wilden Sturm durch die Elbphilharmonie toben und lassen die Funken fliegen. Das nimmt die Zuhörer mit und macht Spaß. Wow.
Die Gäste präsentieren den langsameren zweiten Satz in der von Mahler vorgesehenen Reihenfolge. Der Verleger hatte in den veröffentlichten Noten eigenmächtig die Sätze zwei und drei vertauscht, und so wurde die Sinfonie dann auch lange Zeit ausschließlich gespielt.
Der Österreicher Welser-Möst und seine Musiker spielen den leisen Beginn des zweiten Satzes voller Feingefühl. Alles erklingt herrlich zärtlich, beseelt und weich. Das berührt und packt die Zuhörer, ist voller Spannung und Tiefe. Die Musik wird immer tragischer und gewinnt an Dramatik, klingt oft hell und friedlich. Doch es lauern eine Tragik, eine Schicksalhaftigkeit und eine Vorahnung hinter Licht und Idylle.
Der dritte Satz beginnt enorm aggressiv, es gibt sehr häufige Tempo- und Rhythmuswechsel. Die Musik ist ruhelos, atemlos und nervös. Nachdem das Cleveland Orchestra die ersten beiden Sätze praktisch perfekt präsentiert hat, lässt hier die musikalische Spannung etwas nach. Der Vortrag ist nicht mehr ganz so prickelnd, der Kern der Komposition wird nicht ganz durchdrungen.
Bis jetzt hatten die Musiker das Publikum gepackt und kein Entrinnen vor der Musik zugelassen. In diesem dritten Satz kann man als Zuhörer durchaus die Aufmerksamkeit verlieren und auch kurz mal gedanklich aus dem musikalischen Ereignis aussteigen. Am Ende dieses Textes wird noch Interessantes zu dieser Thematik zu lesen sein – besonders die Freunde des Hamburger Musiklebens wird es freuen!
Ganz anders dann wieder im vierten Satz! Die Musiker aus Amerika sind wieder voll auf der Höhe. Die Schärfe nimmt zu. Vor dieser Musik gibt es kein Entrinnen! Sie ist wahnsinnig unmittelbar, laut, zwingend. Das lässt niemanden kalt. Die Dynamik in dieser Komposition ist enorm. Es kann nach größter Lautstärke sehr schnell wieder sehr leise und zärtlich werden. Wie zuvor schon die Kuhglocken, erklingen auch die Glockenschläge zärtlich aus dem Off. Und himmlisch fein die Celesta, das äußerlich klavierähnliche Instrument, das ähnlich wie ein Glockenspiel klingt und das bei vielen Besuchern Verwunderung auslöst.
Dann ein Hammerschlag, der einem regelrecht körperlich in den Magen haut. Das Orchester bringt die Luft des Saales zum Brennen. Der Dirigent wirft sich mit seiner Existenz in die Musik. Alleine schon ihm zuzusehen ist eine große Freude.
Noch ein Hammerschlag. Das gnadenlose Beil des Schicksals fällt. Der Komponist kann sich bemühen wie er will, mit allen möglichen Einfällen voller Energie, Licht und himmlischen Klängen: Am Ende siegt der Tod. Keiner kann ihm entrinnen. Doch mit Kompositionen wie dieser kann sich ein Mensch unsterblich machen.
Ein Weg für die wenigsten. Und trösten wird das Gustav Mahler wohl auch nicht wirklich. Er hat nichts mehr davon. Wir schon.
Viele Konzertbesucher sind hellauf begeistert von Stück und Orchester. Einige Zuhörer haben ein wenig Probleme mit der Brutalität, der Körperlichkeit und teilweise massiven Lautstärke dieser Sinfonie.
Wie gut ist dieses Cleveland Symphony Orchestra nun im globalen Vergleich? Ist es ein Weltklasse-Orchester? Und wie gut schneidet das Hamburger Spitzenorchester im Vergleich dazu ab?
Im renommierten Gramophone-Klassikmagazin wird das Cleveland Orchestra auf Rang 7 der besten Orchester der Welt geführt. Das ist wohl ein wenig übertrieben. Andere der dahinter gelisteten Orchester wie das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, die Dresdner Staatskapelle und das Gewandhausorchester Leipzig sind etwas stärker einzuschätzen. Die Wahrheit für das Orchester aus Cleveland liegt vielleicht grob bei Platz 11-17 weltweit.
Damit sind sie definitiv Weltklasse. So war die Wagner-Zugabe der Clevelander am Vortag pure Perfektion und Magie. Besser geht es nicht! Ähnliches gilt für einzelne Sätze der beiden Konzerte in Hamburg an diesem Dienstag und Mittwoch.
Allerdings gibt es noch eine Crème de la Crème der Orchester. Es fällt auf, dass die in der Top 5 Gelisteten von so gut wie jedem Orchesterranking seit vielen Jahren oder gar fast Jahrzehnten immer dieselben sind: Das sind das Royal Concertgebouw Orchestra, das Chicago Symphony Orchestra, die Berliner Philharmoniker, die Wiener Philharmoniker und das London Symphony Orchestra. Und jeder, der diese Orchester schon einmal erlebt hat, wird das nachvollziehen können. Diese fünf Orchester schaffen es, absolute Perfektion über einen ganzen Abend in den Saal zu zaubern und mit tiefster Musikalität berühren. Und sie machen das mit beeindruckender Konstanz an fast jedem einzelnen Abend!
Das Cleveland Orchestra war wunderbar. Im dritten Satz von Mahlers Sechster hatten die Musiker allerdings einen Durchhänger. Und, sorry, lieber 1. Hornist: Sie hatten leider auch nicht Ihren besten Tag. Und in drei, vier kurzen Szenen griffen die vielen, vielen Rädchen des riesigen Orchesters nicht ganz flüssig ineinander. Das tat dem Genuss und Spaß keinen Abbruch. Dem Chicago Symphony Orchestra unter Riccardo Muti und dem Royal Concertgebouw Orchestra aus Amsterdam unter Daniele Gatti passieren allerdings selbst winzigste Imperfektionen seltenst. Das ist fast übermenschlich. Und das hebt diese fünf Orchester eben noch einmal eine Stufe über alle anderen ebenfalls wunderbaren klassischen Klangkörper.
Wie schneidet nun das NDR Elbphilharmonie Orchester im Vergleich zum Cleveland Orchestra ab? Da das NDR Elbphilharmonie Orchester Mahlers Sechste im April 2017 bereits unter dem Dirigenten Christoph Eschenbach aufführte, lassen sich die beiden Performances direkt miteinander vergleichen.
Vor sechseinhalb Monaten zog klassik-begeistert.de unter der Überschrift „Das NDR Elbphilharmonie Orchester begeistert mit maximaler Schallenergie und Weltklasse“ folgendes Fazit: „Die Musiker haben beide Stücke des Abends so gut wie vollkommen interpretiert. Das war eine Weltklasse-Leistung, die man sich nicht besser hätte wünschen können! Neben dem zweiten Auftritt der Wiener Philharmoniker unter Ingo Metzmacher und dem zweiten Abend des Chicago Symphony Orchestra unter Riccardo Muti im Januar 2017, war dies über einen ganzen Abend hinweg eine der drei besten Orchesterleistungen in der Elbphilharmonie.“
Das NDR Elbphilharmonie Orchester kann also Weltklasse und zeigt sie immer wieder. Und im Vergleich der beiden ganz großartigen Mahler-Aufführungen lieferten die Hamburger sogar die noch großartigere.
Noch sind die Clevelander aber etwas konstanter als die Hamburger. Und so wie auch im Qualitätssprung zwischen Top 5 und dem Rest, ist diese Konstanz der Hauptunterschied zwischen anerkannter Weltklasse im Top 7-17-Bereich – und ein ganz kleines Stück dahinter dem Vorzeigeorchester der Hansestadt.
Das NDR Elbphilharmonie Orchester kann oft schon Weltklasse, je nach Stück und Tagesform. Bei Richard Wagner und Beethoven-Sinfonien sind die Hamburger Spitzenmusiker noch nicht Spitzenklasse. Das Residenzorchester der Elbphilharmonie profitiert aber von den Erfahrungen der Zusammenarbeit mit den besten Dirigenten und Solisten der Welt und wird sich noch weiter steigern.
Sebastian Koik, 26. Oktober 2017, für klassik-begeistert.de