Das NDR Elbphilharmonie Orchester begeistert mit maximaler Schallenergie und Weltklasse  

Foto: Rätzke (c)
NDR Elbphilharmonie Orchester
Bo Skovhus Bariton
Dirigent Christoph Eschenbach
Matthias Pintscher, Shirim / für Bariton und Orchester – ein Kompositionsauftrag der Elbphilharmonie
Gustav Mahler, Sinfonie Nr. 6 a-Moll
Elbphilharmonie, 7. April 2017

 Von Sebastian Koik

Matthias Pintscher gehört zu den erfolgreichsten Komponisten der Gegenwart, und das nicht nur in Deutschland. Seine Werke werden von den berühmtesten Dirigenten und Orchestern in den renommiertesten Konzertsälen der Welt aufgeführt. Das erste Stück des Abends ist von ihm: ein Auftragswerk der Elbphilharmonie, eine Uraufführung. Mit dem NDR hat der Komponist bereits eine lange künstlerische Beziehung. Bereits 1993 hat der NDR erstmals eine Komposition uraufgeführt, zahlreiche weitere folgten. Aktuell ist er Composer in residence der Elbphilharmonie.

Vor dem Konzert zeigt sich der sympathische, junge Komponist begeistert von der Akustik der Elbphilharmonie: „Ein Saal von unglaublicher Klarheit, Brillanz und innerer Wärme. Man hört alles.“ Die Anforderungen an die Aufführenden seien damit sehr hoch. Bei seinem Kompositionsauftrag erhielt er komplett freie Hand.

In Shirim für Bariton und Orchester vertonte Pintscher Texte aus dem shir hashirim, dem Hohelied Salomos. Mit diesem Text hatte er sich bereits in zwei früheren Kompositionen beschäftigt. „Ausgangspunkt der Komposition ist der Text. Aura, Archaik und Intensität der Lieder in ihrer Verdichtung. Die Sprache ist so ausdrucksvoll, weil sie so komprimiert ist“. Etwa fünfmal so viele Worte brauche man für den selben Text auf Französisch. Der Sänger führt in diesem Stück einen Dialog mit dem Orchester und den einzelnen Instrumenten. Der gesungene und der für das Orchester komponierte Text kommunizieren miteinander. Matthias Pintscher möchte das Orchester zum Vergrößerungsglas dessen machen, was im Klang der Worte steckt.

Das NDR Elbphilharmonie Orchester unter dem weltweit renommierten Dirigenten Christoph Eschenbach, ehemals Chefdirigent des Orchesters, spielt das Stück ganz ausgezeichnet! Quirlig, präzise, mit Spannung. Die Musiker erzeugen eine unheimliche, gespenstische Atmosphäre der Trostlosigkeit und Verlorenheit. Der dänische Bariton Bo Skovhus singt die hebräischen Texte sehr überzeugend. Musik und Gesang klingen getragen und distanziert, wie aus einer fernen Zeit, einer sehr fremden Welt.

Die Musik und ihr Charakter verharren träge in dieser Grundstimmung. Die Musik wirkt monoton, es gibt wenig Variation. Der Charakter und die Wirkung der Musik entsprechen nicht den sehr positiven und freudigen Inhalten der Texte. Gut, es klingt archaisch, es klingt geheimnisvoll. Der Komponist lässt einen hebräischen Text singen – er selbst ist zum Judentum konvertiert und versucht bei seinem Musikerschaffen so subjektiv wie möglich zu sein. Das ist ihm gelungen.

Das zweite Stück des Abends ist Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 6 a-Moll. Für die Uraufführung des Stückes musste der Komponist zwei Orchester zu einem zusammenfügen, um zu der gewünschten großen Besetzung von wohl 110 Musikern zu kommen. Auch an diesem Abend ist die Bühne des Großen Saals prall gefüllt mit Musikern – alleine acht Kontrabässe, vier Harfen und sieben Schlagwerker. Für das Schlagwerk brachen durch Mahler mit diesem Stück neue Zeiten an. Sie gewannen im Orchester an Bedeutung. Der Komponistenkollege Richard Strauss erklärte unter Verweis auf Mahlers Sinfonie die alten Zeiten des Schlagwerks für beendet und forderte Schlagwerk-Professuren an den Konservatorien. Auch die Vielfalt des Schlagwerks nahm zu. Mahler führte mit der 6. Sinfonie außer den Kuhglocken den mächtigen Hammerschlag ein.

Die Musik ist vom Start weg mitreißend! Es ist prachtvolle, mächtige, begeisternde Musik! Die Zuschauer baden im Klang. Das Orchester spielt wunderbar – sehr, sehr fein bei den leiseren Stellen und prachtvoll und gewaltig bei den zahlreichen mächtigen Passagen. Das NDR Elbphilharmonie Orchester unter Christoph Eschenbach spielt enorm präzise, leidenschaftlich, gefühlvoll, musikalisch und mit gewaltiger Spielfreude. Es ist ein Hochgenuss! Und es ist eine Schallmassage für den Großen Saal der Elbphilharmonie. Mit solch mächtigen Schallwellen wurde die schöne Innenhaut des Saals bisher wohl noch nicht bestrahlt. Das war maximale Schallenergie. Schon der erste Satz endet mit einem Wahnsinns-Finale.

Der zweite Satz bringt ein Kuriosum mit sich. Denn die Reihenfolge der Sätze 2 und 3 ist nicht eindeutig geregelt. Der Herausgeber der Partitur hatte eigenmächtig die Reihenfolge der Sätze vertauscht. Er druckte sie, wie Mahler es ursprünglich geplant hatte wie er es persönlich für richtiger hielt. Diese bewusste Manipulation wurde erst viele, viele Jahre später bekannt. Es gibt keinen einzigen Beleg dafür, dass Mahler zu seiner Erstfassung zurückkehren wollte. Das Problem: Inzwischen gab es eine mehr als fünfzig Jahre währende Tradition der Aufführung der absichtlich manipulierten Reihenfolge. Manche Dirigenten halten deshalb an ihr fest. So auch Christoph Eschenbach. Es lässt zuerst das Scherzo und dann das Andante spielen, so wie Gustav Mahler es zwischenzeitlich immerhin erwogen hatte.

Das Orchester macht im zweiten Satz da weiter, wo es aufgehört hat. Es lässt nicht nach! Die Musiker spielen kraftvoll, mit höchster Intensität, hochpräzise. Mit wunderbar wabernden Bässen, spritzig, mit Biss, mit schneller Attacke und voller Esprit. Kein anderes Orchester auf der Welt möchte ich in diesem Moment lieber hören als das wunderbare NDR Elbphilharmonie Orchester unter Christoph Eschenbach!

Der dritte Satz, das Andante moderato, beginnt sehr zart. Das Orchester spielt wunderbar und die Akustik des Saales beeindruckt: Herrlich wie fein ziseliert man die einzelnen Instrumente heraushören kann! Auch diesen leisen, langsamen Satz – eine Oase inmitten von drei umrahmenden klangmächtigen Sätzen – spielt das Orchester mit sehr viel innerer musikalischen Spannung. Dann stürzt sich das Kollektiv in eine wunderbare Gefühlsorgie. Das Läuten der Kuhglocken gibt dem Ganzen noch eine ganz besondere Note. Es ist ein Schwelgen in Schönheit, ein paradiesischer Klang. Die himmlische Klangwolke des Orchesters löst sich am Ende in einzelne Instrumente auf und vergeht in einem lang anhaltenden Flötenton.

Der vierte Satz ist dann ein monumentales Spiel der Dynamik! Nachdem eine klanggewaltige Welle angerauscht kam, ist es recht still. Doch es ist große Spannung in der Musik. Die Erwartung ist riesig. Auch wenn man dieses Werk das erste Mal hört: Man weiß, da kommt noch einiges! Die Zukunft ist in dieser Stille bereits präsent, Mahler hat sie in den aktuellen Moment hineinkomponiert. Man spürt, dass es nur eine befristete Ruhe vor dem nächsten Sturm ist.

Dann die nächste blitzartige, massive Attacke. Nach einer längeren Welle der Gewalt kommt Unruhe in die Musik, bevor sie noch einmal richtig Fahrt aufnimmt. Es ist eine massive Energie. Besonders positiv in dieser klanggewaltigen Orgie fällt die superspritzige Pauke auf. Die Musik wird tendenziell immer massiver, dabei aber immer wieder unterbrochen von sehr zärtlichen, leisen, fragilen Stellen.

Das Orchester nimmt immer mehr Fahrt auf, wird immer lauter und mächtiger, immer schneller, die Energie immer gewaltiger. Mit ganz, ganz viel Anlauf, einer weiteren langen Verzögerung und in einer sehr langen Linie bewegt sich der Klangkörper auf das Finale zu. Dieses fällt nach der gewaltigen Massivität, dem mächtigen Spannungsaufbau etwas kleiner aus als erwartet. Trotz der großen und lange andauernden Eruption bleibt am Ende immer noch unaufgelöste Energie im Raum – ein sehr interessantes, belebendes Gefühl: körperlich spürbar und nachhallend.

Mahlers 6. war ein urgewaltiges Erlebnis und ein Kraftakt, den das NDR Elbphilharmonie großartig und mit enormer Souveränität und Selbstverständlichkeit geleistet hat. Christoph Eschenbach dirigierte voller Leidenschaft und Elan, beherrschte den ewig langen und mehrfach unterbrochenen musikalischen Bogen höchst souverän. Die Musiker haben beide Stücke des Abends so gut wie vollkommen interpretiert. Das war eine Weltklasse-Leistung, die man sich nicht besser hätte wünschen können! Neben dem zweiten Auftritt der Wiener Philharmoniker unter Ingo Metzmacher und dem zweiten Abend des Chicago Symphony Orchestra unter Riccardo Muti, war dies über einen ganzen Abend hinweg eine der drei besten Orchesterleistungen in der Elbphilharmonie.

Sebastian Koik, 9. April 2017 für
klassik-begeistert.de

 

2 Gedanken zu „NDR Elbphilharmonie Orchester, Christoph Eschenbach, Bo Skovhus, Matthias Pintscher, Shirim, Gustav Mahler, Sinfonie Nr. 6,
Elbphilharmonie“

  1. Hörte die 6. Mahler im Lübecker Konzert, in der „Rotunde“ als Behelf für den erst Anfang Mai wieder verfügbaren sanierten Saal. Natürlich kein Vergleich mit der „Elphi“, aber das Riesenorchester klang auch dort ganz hervorragend, weil Christoph Eschenbach die Akustik voll im Griff hatte. Große Begeisterung, und wieder liegen wir Eschenbach zu Füßen. Wir freuen uns schon jetzt auf seine dreiwöchige Arbeit zum 30-jährigen Jubiläum mit dem SH-Festivalorchester im Sommer. Das wird was!
    Johannes Capriolo

  2. Wir durften die dritte Aufführung dieses Programms am Sonntag, 9. April, erleben und waren ebenfalls höchst angetan! Das gleichermaßen pointierte wie nuancierte Dirigat Christoph Eschenbachs wurde den großen Herausforderungen dieser beiden hochkomplexen Werke in jeder Hinsicht gerecht, und das NDR Elbphilharmonie Orchester schwang sich einmal mehr in ungeahnte Höhen auf. Man merkte, dass mit Eschenbach ein ausgewiesener Mahler-Experte am Pult stand – uns hat diese Aufführung von Mahlers Sechster sogar noch einen Tick mehr überzeugt als die grandiose Darbietung von Mahlers Zweiter unter Thomas Hengelbrock am 26. Februar 2017.

    Diesmal hatten wir das Glück, kurzfristig zwei Plätze in allerbester Weinberglage (Bereich A, Reihe 6, Sitze 3 und 4) zentral vor dem Orchester zu ergattern, und so kamen wir in den seltenen Genuss einer philharmonischen Offenbarung. Dank der großartigen Akustik der Elbphilharmonie ergab sich selbst hier – nur ein paar Meter vom Dirigentenpult entfernt – eine ungeheure klangliche Transparenz und Feinauflösung, wie sie in nur ganz wenigen Konzertsälen in solch geringer Distanz bei großer Orchesterbesetzung anzutreffen sein wird. Womöglich stehen also erst heute – mehr als hundert Jahre nach den Uraufführungen von Malers Monumentalsinfonien – geeignete Aufführungsstätten zur Verfügung, in denen Komplexität und Ambivalenz dieser singulären Klangkunstwerke zur vollen Geltung gebracht werden können.

    Roland Stuckardt

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