Foto © Thomas Egli
Liederabend
Concertgebouw Amsterdam – Kleine Zaal, 17. November 2017
Christian Gerhaher Bariton
James Cheung Klavier
von Antonia Tremmel-Scheinost
Die Vergänglichkeit alles Irdischen macht auch vor der Kunst nicht halt. Dies wurde dem Publikum des Concertgebouw am Freitagabend in Amsterdam lebhaft vor Augen geführt.
Nur selten ist man dem Künstler und seiner Kunst näher als im intimen Rahmen des Liederabends. Eines lehrte die unmittelbare Erfahrbarkeit des Liedes ganz gewiss: Auch der Sänger ist am Ende bloß ein Mensch. Niemand ist unfehlbar, und das ist auch gut so.
An Unvollkommenheit stört sich der weise Nordmann von stoischer Gelassenheit zwar nicht (völlig zu Recht), dennoch konnte einem der Bariton Christian Gerhaher mehr als leid tun, ja, man litt geradezu mit ihm mit. Dass selbst ein großer Künstler mit einer solch angelischen Stimme vor Krankheit nicht gefeit ist, ist eine Unbill.
Doch von vorne, alles da capo.
Der Ruf, der Christian Gerhaher vorauseilt, ist ein phänomenaler. Von vielen als „bester Bariton der Welt“ gepriesen, ist er für die Autorin ohne Zweifel ein vollendeter Liedsänger. Dieser hochintelligente Bariton mit lyrisch-weichem Timbre, geschmackvoll eingesetztem Vibrato und seidenem Schmelz in Reinkultur, entzückt. Der Niederbayer weiß seine Stimme mühelos wie geschmeidig zu führen. Ausdrucksstark und nie forciert umspannt er alle Nuancen, von ganz zurückgenommen bis ins fortissimo-espressivo.
Gerhaher – studierter Mediziner – ist gleichermaßen ein Grübler, ein Haderer, er spürt dem Kern der menschlichen Seele mit gebotenem Ernst nach. Allerdings nicht in übertrieben chirurgischer Weise, sondern stets mit der richtigen interpretatorischen Distanz. Nie wird ein Text überbewertet, und dennoch ist seine intellektuelle Durchdringung der Musik anrührend. Am bemerkenswertesten ist und bleibt allerdings Gerhahers einzigartige, glasklare Artikulation, ganz in polyglotter Manier. Kurzum, dieser Mann ist ein Segen für das Kunstlied!
Soviel zum Ideal- und Normalzustand.
Nachdem (für eine Wiener Seele) aufregenden Eintauchen in holländische Kultur-Synkretismen und Laissez-faire-Attitüden, erwartete man den vertrauten Christian Gerhaher, 48, im Concertgebouw entsprechend freudig. Überraschend erschien dieser aber ganz nach dem Motto „Ecce nova facio omnia“ („Siehe, ich mache alles neu“) mit sowohl neuem Begleiter, als auch exotischer Renaissance-Klangkunst.
Carlo Gesualdos „Moro, lasso, al mio duolo“ („Ich sterbe, ich Elender, an meinem Schmerz“) läutete eine Reise in düstere Seelenabgründe ein. Dieses zutiefst aufwühlende Madrigal des legendenumwobenen Renaissancefürsten erklang in einem Arrangement von Ben Foskett atemberaubend modern. Gesualdo, der seine Gattin und deren Geliebten meuchelte, verwob seine pathologische Todessehnsucht und die anschließende lebenslange Reue in kühne, erschütternde Harmoniefolgen. Diese Parabel des Schreckens ist normalerweise eine willkommene Herausforderung für einen Sänger von Gerhahers Schlag, doch er fühlte sich von Beginn an sichtlich unwohl.
Als er seinen Bariton in das Rotondo des Kleinen Saales fluten ließ, wirkte das vertraute, normal fein gesponnene Stimmgold seltsam beschlagen. Makellose Textverständlichkeit war wie eh und je vorhanden, doch der verkörperte Büßer, der im Glauben vergebens Halt sucht, erschien ungewohnt angestrengt. Nach dem letzten „Ahi, mi da morte!“ dann des Rätsels (bittere) Lösung: Gerhaher offenbarte in einem direkten Appell an die Hörerschaft, dass er von einem schweren Infekt geplagt werde und sich demnach für sein sangliches Unbehagen entschuldige. Allein dafür muss man diesem Ausnahmekünstler Respekt zollen. Zum einen, dass der Bariton in seinem deutlich angeschlagenen Zustand überhaupt auftritt und zum anderen, dass er als ausgemachter Perfektionist Schwäche zeigt. Chapeau. Die Hörerschaft ließ zweifelsohne einhellig Nachsicht und Verständnis walten.
Auf diese Hiobsbotschaft setzte es Brahms. Der zeigte, dass Christian Gerhahers überragendes Gesangstalent in Verbindung mit seiner unschlagbaren sängerischen Intuition so schnell nicht auszulöschen ist. Das deutsch-romantische Repertoire verhalf dem Star-Bariton zu gewohnten Höhen! Die zauberischen Klangwelten von „Wir wandelten“ ließen vorangegangene Melancholie und Trübsal verfliegen. Vor allem der kantable, volksliedhafte E-Dur Mittelsatz war betörend! Glänzend in den hohen Lagen wusste Gerhaher in Verzückung zu versetzen, und sein lyrisch-semantischer Jubel zauberte dem Publikum ein kollektives Lächeln auf die Lippen.
Auch die „Meerfahrt“, jene berühmte Vertonung Heinrich Heines, bekundete eine gesangliche Umsetzung des Poetischen von höchster Güte. Das wehmütige Plagen mit dem leidigen Thema Liebe wurde mit ausgemachter stimmlicher Eleganz besungen. Wiegende, wellenartige Klänge ergossen sich silbrig von der Bühne. Den Brahms’schen Miniaturenreigen beschloss Gerhaher mit „Der Tod, das ist die kühle Nacht“. Hierbei stellte sich eine zunehmende Müdigkeit des lyrischen Ichs ein und verblasste zu einer wehmütigen Erinnerung im Antlitz des Todes.
Solch stimmliche und emotionale Anstrengungen schlugen dementsprechend zu Buche. Benjamin Brittens kärglicher Zyklus „Songs ad Proverbs by William Blake“ führte der Bariton ohne Frage fein differenziert mit wohldosierter Dynamik aus, und auch faszinierende Lautmalerei, generiert durch eine Reduzierung aufs Wesentliche, glückte. Dennoch ließ sich mit fortschreitenden Strophen ein zunehmendes Ermatten in der Stimmführung bemerken. Das Herz mochte einem zerspringen, als man das bekümmerte Kopfschütteln der Sängers nach der letzten Silbe wahrnahm.
Glücklicherweise schien der herzliche Pausenapplaus den Bariton wieder ein wenig aufzurichten, jedenfalls entwickelten sich Claude Debussys „Trois Chansons de France“ und „Trois Poèmes de Mallarmé“ zu einem bezaubernden Klanggebilde. Die atmosphärische Einheit aus Wort und Klang kokettierte auch mehrmals mit der Atonalität, die Töne schmeckten metallisch.
Durch die zunehmende Emanzipierung des Klavierparts trat zum ersten Mal James Cheung als Liedbegleiter aus dem Schatten des Meisters. Streckenweise glückte ihm ein lebendiges, helldunkel kontrastierendes Spiel. Dennoch wurde Gerhahers kongenialer Partner Gerold Huber schmerzlich vermisst. Die jahrzehntelange künstlerische Zusammenarbeit der beiden Straubinger birgt wohl den Schlüssel zu deren einzigartiger musikalischer und textlicher Umsetzung der vokalen Kammermusik. Cheung ist fraglos ein guter Pianist, aber viel zu distanziert, um ein Sachwalter der Huber’schen Errungenschaften im Liedmetier zu sein.
Der letzte Teil dieses Abends war Franz Schubert gewidmet. „Mein Heiland, Herr und Meister“, wie es im Agnus Dei seiner Deutschen Messe heißt. Christian Gerhaher bündelte seine ganze Könnerschaft in den buchstäblich letzten Liedern Schuberts. Ein Changieren zwischen stiller Seelenrührung und vollkommener Innigkeit zog alles mit sich. Fulminant interpretierte er Heines „Der Atlas“, dank frei strömender Tempi lebte die Musik, sie atmete, war vollends erfahrbar. Dadurch wurde dem Hörer die ganze Tragweite und Dramatik der Miniatur bewusst – schon die Moll-Akkordschläge des Vorspiels erschütterten!
Als absoluter Höhepunkt dieses aufreibenden Abends erwies sich schlicht und einfach „Ihr Bild“. Die deutsche Sprache zeigte sich in ihrer schönsten Fasson, sogar meine französische Begleitung war zu Tränen gerührt. Der Text wurde dank Gerhahers vollkommen ungekünstelter Empathie zu universal verständlicher Emotion. Gesangliche und sprachliche Gestaltung waren perfekt ausbalanciert, und die ungemeine Qual eines verlassenen Mannes hätte nicht ergreifender vertont werden können. „Und ach, ich kann es nicht glauben, dass ich dich verloren hab!“ sorgte für tiefstes Mitgefühl. Seelenqual und Sehnsucht zogen sich auch durch „Die Stadt“, „Am Meer“ und den „Doppelgänger“. Als perfekte Zugabe tänzelte „Die Taubenpost“ durch den Saal. Aus Schuberts finalem Lied seines Schaffens sprach die pure Wehmut – die schlichte melodische Linie mit simpler Lyrik war ein rührendes Abschiednehmen.
Die letzten Klangfragmente verhallen. Stille. Applaus mit Ovationen – Christian Gerhaher zieht schnell von dannen. Erdverbunden, bescheiden und sympathisch. Der Hörer wird in eine kühle Amsterdamer Nacht entlassen. Es ist eine gute Umgebung um diese emotionale Achterbahnfahrt zu verarbeiten. Und um sich seiner Menschlichkeit bewusst zu werden.
Antonia Tremmel-Scheinost, 18. November 2017, für
klassik-begeistert.de
Carlo Gesualdo di Venosa Moro, lasso, al mio duolo
Johannes Brahms Wir wandelten aus Vier Lieder, op. 96
Johannes Brahms Meerfahrt aus Vier Lieder, op. 96
Johannes Brahms Verzagen aus Fünf Gesänge, op. 72
Johannes Brahms Über die Heide aus Sechs Lieder, op. 86
Johannes Brahms Der Tod, das ist eine kühle Nacht aus Vier Lieder, op. 96
Benjamin Britten Songs and Proverbs of William Blake, op. 74
Claude Debussy Trois Chansons de France
Claude Debussy Trois Poèmes de Mallarmé
Franz Schubert Der Atlas aus dem Schwanengesang, D 957
Franz Schubert Ihr Bild aus dem Schwanengesang, D 957
Franz Schubert Das Fischermädchen aus dem Schwanengesang, D 957
Franz Schubert Die Stadt aus dem Schwanengesang, D 957
Franz Schubert Am Meer aus dem Schwanengesang, D 957
Franz Schubert Der Doppelgänger aus dem Schwanengesang, D 957
Franz Schubert Die Taubenpost aus dem Schwanengesang, D 957