Foto: Ian Bostridge © Wigmore Hall
Wigmore Hall, London, 24. September 2021
Ian Bostridge, Tenor
Lars Vogt, Klavier
Franz Schubert, Schwanengesang D957, Teil 1
Franz Schubert, Einsamkeit D620
Franz Schubert, Schwanengesang D957, Teil 2
von Lukas Baake, London
Ian Bostridge in einem Konzert erleben zu dürfen, gleicht einem Erweckungserlebnis. Der Tenor, der wie kaum ein anderer die jüngere Schubertinterpretation geprägt hat, tritt expressiv auf, leidet, füllt den Raum mit Körper und Stimme zugleich und triumphiert am Ende. Das Konzertpublikum der Wigmore Hall, der Bostridge nahezu seit drei Jahrzehnten verbunden ist, antwortete zurecht mit einem langanhaltenden Applaus.
Schuberts letzter, posthum veröffentlichter Zyklus ist ein etablierter Bestandteil des Liedrepertoires. Umso erstaunlicher ist es, dass es Bostridge immer wieder gelang, neue Facetten des Werks zum Vorschein zu bringen. Auch wenn umstritten ist, inwiefern Schubert die 14, kurz vor seinem Tod komponierten Lieder als Zyklus konzipiert hat, lassen sich die Lieder nach Texten von Ludwig Rellstab, Heinrich Heine und Johann Gabriel Seidl in zwei Gruppen aufteilen. Dieser Unterteilung folgte auch Bostridge.
Die erste Konzerthälfte war geprägt von den Rellstab-Liedern, die um Empfindsamkeit, Naturschwärmerei, erfüllte und unerfüllte Sehnsucht kreisen. Gleich zu Beginn zeigte sich Bostridges aparte Gabe, Bekanntes neu zu Gehör zu bringen. Wo in vielen Interpretationen häufig ein frivoler und beinahe naiver Duktus vorherrscht, gelingt es Bostridge das „rauschende Bächlein“ und die „säuselnden Lüfte“ in die innere Gebrochenheit des romantischen Ichs umzudeuten, und damit das bestimmende Motiv seiner Interpretation vorwegzunehmen.
Ein ähnlich bereichernder Einfall war es, die zweite Konzerthälfte nicht unmittelbar mit den Heine-Liedern des Zyklus fortzusetzen, sondern das selten gespielte Lied „Einsamkeit“ (D620) als Interludium einzufügen. Das Lied ist in sechs, stark kontrastierende Teile gegliedert und lässt sich mit seiner Länge von fast zwanzig Minuten als preziöser Zyklus en miniature verstehen. Mit der Auswahl des 1818 entworfenen Lied wurde nicht nur das Kaleidoskop romantischer Empfindsamkeit um eine weitere Facette bereichert, sondern auch die Kontinuität in Schuberts Schaffen aufgezeigt.
Im Anschluss folgten die sechs auf Gedichte von Heine zurückgehenden Lieder. Bostridges Interpretation schien im Laufe des Abends an immer mehr Kraft und Fülle zu gewinnen: Die breiten Tiefen seines Tenors um Verzweiflung und Schmerz Ausdruck zu verleihen („Der Atlas“) verstand er ebenso zu verwenden wie die sanften und geschmeidigen Linien in der Höhe („Am Meer“). Ergreifend war auch die sichtliche Intensität, mit der Bostridge die Stimmungen der einzelnen Lieder körperlich mitempfand. Das Zusammenspiel mit Lars Vogt wurde von Lied zu Lied inniger, bestimmter und harmonischer. Nach dem Konzertarbeit kann man nur hoffen, dass die beiden Musiker, die eine jahrelange Zusammenarbeit verbindet, ihre Interpretationskunst im Rahmen einer Aufnahme festhalten.
Bostridge, ohnehin ein Liebling des Londoner Publikums, und Vogt wurden für ihren Liederabend frenetisch bejubelt. Sie bedankten sich mit einer doppelten Zugabe: Schuberts „Der Wanderer an den Mond“ und „Nacht und Träume“. Auch hier war das Zusammenspiel zwischen Bostridge und Vogt berückend. Sofort wollte man ihnen die letzten gesungenen Worte erwidern: „kommet wieder!“
Lukas Baake, 28. November 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Giuseppe Verdi, La Traviata Royal Opera House, London, 2. November 2021
Christian Gerhaher, Bariton Wigmore Hall, London, 29. September 2021