Foto: Vivi Vassileva by©AdrianaYankulova 12
Die Entwicklung und Karriere vielversprechender NachwuchskünstlerInnen übt eine unvergleichliche Faszination aus. Es lohnt sich dabei zu sein, wenn herausragende Talente die Leiter Stufe um Stufe hochsteigen, sich weiterentwickeln und ihr Publikum immer wieder von neuem mit Sternstunden überraschen. Wir stellen Ihnen bei Klassik-begeistert jeden zweiten Donnerstag diese Rising Stars vor: junge SängerInnen, DirigentInnen und MusikerInnen mit sehr großen Begabungen, außergewöhnlichem Potenzial und ganz viel Herzblut sowie Charisma.
KlickKlack – Martin Grubinger stellt Vivi Vassileva vor – 23.7.2019 – BR-KLASSIK
Als ich 2012 in München eine Aufführung der achten Symphonie von Bruckner durch das Bruckner-Akademieorchester besuchte, fiel mir ein zierliches Mädchen mit damals noch kurzen schwarzen Haaren auf, das hinten über dem Orchester mit großer Eleganz die Schlägel der Pauke bewegte. Dieser kommen in dem abendfüllenden Werk wesentliche Aufgaben bei der Gestaltung der Übergänge zu, die die junge Dame überzeugend löste und damit den musikalischen Fluss an den heiklen Nahtstellen zwischen den Themenblöcken aufrechterhielt. Als sie beim Schlussapplaus vom Dirigenten aufgerufen wurde, bekam sie im Vergleich zu den anderen Mitwirkenden die größten Beifallsstürme. Ich fand dann heraus, dass es die damals 17-jährige, aus einer bulgarischen Musikerfamilie stammende Vivi Vassileva war.Ihre Eltern spielten bei den Hofer Symphonikern, der Vater war Geiger und von dem Wunsch beseelt, die Kunst auf diesem Instrument an seine Kinder weiterzugeben. Bei ihrem Bruder Vasco war dies auch von Erfolg gekrönt: er wurde Konzertmeister am Royal Opera House in London, ebenso bei der Schwester Veronica, die eine Orchesterstelle in den USA fand. Doch bei der jüngeren Vivi kam es anders, wie man ihrer Plauderei in einer Sendung des KiKa entnehmen kann. Denn am Strand nahe dem Ferienhaus ihrer Eltern am Schwarzen Meer war sie schon als Kind fasziniert von den verschiedenartigen Trommeln, die dort von jungen Leuten gespielt wurden. Bald bat sie darum, diese auch ausprobieren zu dürfen, wurde sofort von den Rhythmusfans adoptiert und erhielt Anweisungen, wie man selbst auf solch einfachen Instrumenten ganz unterschiedliche Klänge erzeugen kann. Ihre Begeisterung war schließlich so groß, dass sie ihren Vater ein Jahr lang bearbeitete, bis sie ab dem Alter von zehn Jahren Schlagzeugunterricht nehmen durfte. Drei Jahre später konnte sich das Publikum schon an ihrem schnell wachsenden Können als Solistin erfreuen.
Vivi Vassileva: Creston Concertino (2007)
Nach ihrem Abitur ging sie dann mit 17 Jahren zum Studium nach München, wo sie in Peter Sadlo einen herausragenden Lehrer fand. Von diesem konnte sie bis zu seinem frühen Tod in 2016 sehr viel mitnehmen. Beim ARD-Musikwettbewerb 2014 erspielte sie mit einem Programm, das noch in der Mediathek des Bayerischen Rundfunks abrufbar ist, den Sonderpreis als jüngste Semifinalistin des gesamten Wettbewerbs. Kurz darauf konnte ich sie in der Wolfratshausener Loisachhalle live erleben, wo sie vor 600 Zuhörern ganz alleine einen spannenden und abwechslungsreichen Konzertabend gestaltete. Hierbei kam in einem Werk auch ihre „Junk Percussion“ zum Einsatz: eine Anordnung von allerlei ausgedientem Küchengerät, das sie aufgrund besonderer klanglicher Qualitäten ausgewählt hatte. So fasziniert sie auch mit ihrer Leidenschaft, mit allem Musik zu machen, was ihr in die Hände kommt, und sei es eine halbleere Wasserflasche.
VIVI VASSILEVA – BOTTLE PERCUSSION
Doch nicht nur Pfannen, Töpfe und Flaschen bringt sie zum Klingen, ebenso hat sie Sinn für Harmonie und Melodie, den sie hochvirtuos am Vibraphon und der Marimba zeigt. In kleinen Besetzungen oder nur mit einem Partner an der Gitarre gestaltet sie an diesen Instrumenten sowohl Arrangements verschiedener klassischer Stilrichtungen, als auch Jazzklänge. Sie bereichert ihr Repertoire auch mit eigenen Schöpfungen, doch vor allem haben schon zahlreiche zeitgenössische Komponisten für sie geschrieben. Das reicht von Stücken für eine einfache Rahmentrommel über das Recycling Concerto mit selbst erfundenen Instrumenten von Gregor Mayrhofer bis zu dem großangelegten Konzert für Perkussion und Orchester „Oraculum“ des Spaniers Oriol Cruixent, das die sieben Chakren (Energiezentren des Körpers nach asiatischer Vorstellung) in Töne fasst. Eigens auf sie zugeschnitten, erlaubt ihr dieses kontrastreiche Werk, alle Möglichkeiten ihres vielseitigen Instrumentariums auszureizen.
Percussion Concerto Oraculum by Oriol Cruixent (2019)
Es ist unverkennbar, wie gerne sie das Abenteuer spannender Entdeckungsreisen in musikalisches Neuland sucht und wie sie ihr Publikum auf neuen Wegen mitnimmt und mitreißt. Sie möchte, wie sie sagt, „die konservative Marke, die der klassischen Musik irgendwie aufgesetzt wurde, gerne wegmachen“, weil diese dem Pioniergeist ihrer Generation überhaupt nicht entspricht. So macht sie mich auch völlig vergessen, dass ich mit zeitgenössischen Klangwelten oftmals auf dem Kriegsfuß stehe. Doch was sie musikalisch gestaltet, hat mit dem zu erduldenden zeitgenössischen Pflichtstück in herkömmlichen Konzertprogrammen rein gar nichts zu tun; es ist neu und frisch und hat mit überlebter Tradition nichts gemein. Das funktioniert auch deshalb, weil sie gesunde Wurzeln hat, die auf die musikalische Tradition ihres Heimatlands zurückgehen. Ihr Phantasiestück über das bulgarische Volkslied „Kalino Mome“ bringt das sehr schön zum Ausdruck und macht umso mehr neugierig auf ihre künstlerische Zukunft.
Bulgarian Folk Song played on Marimba and Percussion – Kalino Mome
Wer ihre Konzerte besucht, kann sich auf eine Synthese von atemberaubendem Können mit musikalischer Gestaltungskraft freuen. Er kann sicher sein, dass er nicht mit Routine abgespeist wird, sondern ein Feuerwerk von unverbrauchtem Elan, Begeisterung und Schaffenskraft erleben darf. Und er wird von zahlreichen neuen Eindrücken bereichert nach Hause gehen und den starken Wunsch verspüren, bald wiederzukommen.
Lorenz Kerscher, 2. Dezember 2021, für
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Lorenz Kerscher, Jahrgang 1950, in Penzberg südlich von München lebend, ist von Jugend an Klassikliebhaber und gab das auch während seiner beruflichen Laufbahn als Biochemiker niemals auf. Gerne recherchiert er in den Internetmedien nach unentdeckten Juwelen und wirkt als Autor in Wikipedia an Künstlerporträts mit.
„‘Musik ist Beziehungssache‘, so lautet mein Credo. Deshalb bin ich auch als Chorsänger aktiv und treffe mich gerne mit Freunden zur Hausmusik. Eine neue Dimension der Gemeinsamkeit eröffnet sich durch die Präsenz vieler, vor allem junger Künstler im Internet, wo man Interessantes über ihre Entwicklung erfährt, Anregungen zur Entdeckung von musikalischem Neuland bekommt und auch in persönlichen Kontakt treten kann. Man ist dann kein Fremder mehr, wenn man ihnen als Autogrammjäger begegnet oder sie sogar bei einem Konzertbesuch im Publikum trifft. Das ist eine schöne Basis, um mit Begeisterung die Karrieren vielversprechender Nachwuchskünstler mitzuerleben und bei Gelegenheit auch durch Publikationen zu unterstützen.“
Rising Stars 19: Johannes Kammler, Bariton – ein junger Kavalier, der Gefallen findet