Schweitzers Klassikwelt 52: mein erster "Capriccio-Abend"

Als wir (noch) nicht „Merker“ und „Blogger“ waren.
Erinnerungen an schöne musikalische Erlebnisse

von Lothar Schweitzer

Es nähert sich der 61. Jahrestag. Am 5. Januar 1961 sah und hörte, nein, erlebte ich an der Wiener Staatsoper meinen ersten „Capriccio“-Abend. Der 5. Januar fiel noch in die Weihnachtsferien meiner Gymnasialzeit, die in Österreich erst mit dem 6. Januar, einem Feiertag (dem Fest der Erscheinung des Herrn, vulgo Dreikönigstag), zu Ende gehen. Dies trug zu einer gehobenen Stimmung bei.  Es wurde eine grandiose Besetzung aufgewartet. Ohne in meinen Unterlagen nachschauen zu müssen, weiß ich noch heute die prominenten SängerInnen auswendig. Von persönlichen Gefühlen bestimmt profilierten sich an dem Abend  zwei der KünstlerInnen besonders.

Elisabeth Schwarzkopf als Capriccio-Gräfin, Wiener Staatsoper 1960 © Österreichische Nationalbibliothek (Bildarchiv)

Durch Elisabeth Schwarzkopf, die die Gräfin sang, erfuhr ich zum ersten Mal, was eine Richard Strauss-Stimme ist. Diese Erfahrung war natürlich an früheren Abenden bei der „elektrisierenden Elektra“ (Tageszeitung „Kurier“) der Gerda Lammers, Gast von der Württembergischen Staatsoper Stuttgart, und bei der grundsoliden Ariadne der Hilde Zadek nicht zu erwarten. Im zweiten Fall hat in dieser Aufführung noch dazu der phänomenale Bacchus James McCracken alle anderen Erinnerungen in den Hintergrund gedrängt. Bei der Arabella der Lisa Della Casa im Frühjahr des vergangenen Jahrs 1960 wundert es mich schon. Wie war an dem Tag mein Hörempfinden wohl eingestellt?
Ein zweiter, aber unerwarteter Glanzpunkt war die Interpretation des Theaterdirektors La Roche. Der eher charakterbaritonale Otto Wiener, vom Konzert- und Oratorienfach kommend, mir in der Staatsoper jüngst als Kurwenal bekannt geworden, wagte sich an die als Basspartie deklarierte Rolle – und gewann. La Roche selbst bezeichnet sich im Stück als Bassbuffo.

Otto Wiener als La Roche © Christian Brandstätter Verlag, Wien

Vor dem Beginn der Aufführung etwas voreingenommen bewunderte ich so sehr Otto Wieners Ausdrucksweise und seine gesangliche Raffinesse in seiner langen Ansprache vor dem geschwisterlichen Grafenpaar und ihren geladenen schöpferischen und ausführenden KünstlerInnen, dass ich in den stürmischen und lange anhaltenden Applaus des Publikums nach seinem Schlusswort „Amen“ begeistert einfiel. Wenn ich heute den Text wieder lese, verbinde ich ihn mit den Sorgen unsres Staatsoperndirektors bezüglich des Überlebens der Oper: „Wo sind die Werke, die zum Herzen des Volkes (ich ergänze: der Jugend) sprechen? Mit Menschen, die unsere (ihre) Sprache sprechen, die unsere (ihre) Seele widerspiegeln? Ihre Leiden sollen uns rühren und ihre Freuden uns tief bewegen! Gebt dem Theater neue Gesetze – neuen Inhalt. Schafft die Werke, die ich suche! Kraftvoll führe ich sie auf meiner Bühne zum stolzen Erfolg. Der Bühne ein Vater, den Künstlern ein Schutzgeist.“

Karl Schmitt-Walter (siehe Schweitzers Klassikwelt 1 „Die Meistersinger von Nürnberg am 3. November 1960“) hingegen hatte in der Partie des Bruders der Gräfin im Vergleich zu seinem Beckmesser keine Gelegenheit zu zeigen, was alles in seiner Stimme an Ausdruck steckt.

Schon als Kind soll ich vor dem weihnachtlichen Gabentisch immer zum kleinsten Päckchen als Erstes zugegangen sein. Es blieben mir auch jetzt Episodenrollen in lebendigster Erinnerung. Rita Streich und Giuseppe Zampieri als italienisches SängerInnenpaar, neben dem Sänger im „Rosenkavalier“ Zampieris zweite Richard Strauss-Partie. Und der sonderliche Souffleur Monsieur Taupe war eine typische Peter Klein-Rolle.

Auf diese Weise erhielten meine Weihnachtsferien einen besonders schönen Ausklang.

Lothar Schweitzer, 28. Dezember 2021 für
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Lothar und Sylvia Schweitzer

Lothar Schweitzer ist Apotheker im Ruhestand. Gemeinsam mit seiner Frau Sylvia schreibt er seit 2019 für klassik-begeistert.de: „Wir wohnen im 18. Wiener Gemeindebezirk  im ehemaligen Vorort Weinhaus. Sylvia ist am 12. September 1946 und ich am 9. April 1943 geboren. Sylvia hörte schon als Kind mit Freude ihrem sehr musikalischen Vater beim Klavierspiel zu und besuchte mit ihren Eltern die nahe gelegene Volksoper. Im Zuge ihrer Schauspielausbildung statierte sie in der Wiener Staatsoper und erhielt auch Gesangsunterricht (Mezzosopran). Aus familiären Rücksichten konnte sie leider einen ihr angebotenen Fixvertrag am Volkstheater nicht annehmen und übernahm später das Musikinstrumentengeschäft ihres Vaters. Ich war von Beruf Apotheker und wurde durch Crossover zum Opernnarren. Als nur für Schlager Interessierter bekam ich zu Weihnachten 1957 endlich einen Plattenspieler und auch eine Single meines Lieblingsliedes „Granada“ mit einem mir nichts sagenden Interpreten. Die Stimme fesselte mich. Am ersten Werktag nach den Feiertagen besuchte ich schon am Vormittag ein Schallplattengeschäft, um von dem Sänger Mario Lanza mehr zu hören, und kehrte mit einer LP mit Opernarien nach Hause zurück.“

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