Abschied von Hélène Bouchet (Foto RW)
Hélène Bouchet war auf der Bühne nie die nach Innen gekehrte, das Seelendrama still verarbeitende Tänzerin, immer war sie sich ihrer weiblichen Würde bewusst, hatte eine klare, fast schon emanzipatorische Vorstellung von ihrer Rolle. Selbst in den tragischen Momenten musste man nicht um die Person, die sie darstellte, fürchten.
Staatsoper Hamburg, 27. Dezember 2021
Hamburg Ballett
von Dr. Ralf Wegner
Neumeiers Weihnachtsoratorium lässt sich auch bibelfern lesen: Die Liebe eines Mannes überwindet den Schmerz, eine „entehrte“ Frau zu ehelichen. Neumeiers Genialität zeigt sich in der Doppelbödigkeit des Gezeigten. Der dem christlichen Glauben nahe Stehende sieht in Maria die Gottesmutter, der Agnostiker vielleicht die Ängste einer Frau, die das Kind eines anderen als das ihres Verlobten austrägt. Vielleicht deshalb nennt Neumeier seine beiden Protagonisten nicht Josef und Maria sondern „die Mutter“ und „ihr Mann“. Man spürt bei Hélène Bouchet die Last, die sie trägt, sie ergibt sich ihr aber nicht, kämpft mit sich, will das Schicksal des ihr zugedachten Kindes nicht akzeptieren. Erst die Liebe ihres Angetrauten (Jacopo Bellussi) gibt ihr die Kraft, in die Zukunft zu blicken.
Wir schauen der Handlung zu, wie Aleix Martinez als „ein Mann“, vielleicht ein Obdachloser, der noch offen für die Weihnachtsgeschichte ist. Engel begleiten ihn, traumwandlerisch sicher und in perfekter Harmonie von Silvia Azzoni und Alexandr Trusch getanzt. Karen Azatyan beeindruckte als Hirte, Patricia Friza legte ein überzeugendes Schlusssolo hin. Die Heiligen Drei Könige („die drei Weisen“) tanzten tadellos: Marc Jubete, Florian Pohl und Lizhong Wang.
Knapp 3 Stunden Nettospieldauer für ein Ballett ist schon ungewöhnlich lang, vor allem für eines mit nur wenigen narrativen Elementen. Die Musik von Johann Sebastian Bach trägt natürlich zum Gelingen bei. Erstaunlich ist trotzdem, wieviel Tanz auf die Bachsche Musik passt. Sie sitzt wie angegossen, selbst Tangoschritte (König Herodes) harmonieren mit des Barockmeisters Rhythmen, so als ob der Komponist es sich genau so vorgestellt hat. Vor allem, wenn sie mit so einem Können wie von Matias Oberlin präsentiert werden.
Insgesamt zeigte Neumeiers Ballett-Truppe, was Ensembleleistung sein kann: Die Freude am Tanz zu vermitteln, die sich von der Bühne auf den Zuschauerraum überträgt. Bei Youtube lässt sich dieses nachverfolgen:
Es war der letzte Auftritt von Hélène Bouchet. Sie geht nach Frankreich zurück. Dort wurde sie 1980 in Cannes geboren. Seit 1998 hat sie in Hamburg getanzt und viele große Rollen geprägt. Ihre unnachahmliche, raumgreifende tänzerische Präsenz ließ selbst vom hinteren Parkett aus erkennen, wer da vorn auf der Bühne stand. Mit ihrer darstellerischen Ausdruckskraft überzeugte sie als Julia, einstmals zusammen mit Thiago Bordin, als Desdemona oder als Natalia im Schwanensee, aber auch als Julie in Liliom oder Romola in Nijinsky. Eine sehr emotionsbetont dramatische Tatjana zeigte sie in Crankos Onegin-Ballett, zuletzt mit ihrem Partner Carsten Jung, fast schon als Ausdruck einer persönlichen Beziehung. Noch in diesem Jahr war ihr komisches Talent als Helena im Sommernachtstraum zu bestaunen.
Hélène Bouchet geht vor John Neumeier in die Knie (Foto RW)
Hélène Bouchet war auf der Bühne nie die nach Innen gekehrte, das Seelendrama still verarbeitende Tänzerin, immer war sie sich ihrer weiblichen Würde bewusst, hatte eine klare, fast schon emanzipatorische Vorstellung von ihrer Rolle. Selbst in den tragischen Momenten musste man nicht um die Person, die sie darstellte, fürchten: Sie würde es überleben, nicht mit dem Schicksal hadern, sondern es annehmen, wie die Mutter/Maria im Weihnachtsoratorium. Wir werden Hélène Bouchet vermissen.
Dr. Ralf Wegner, 27. Dezember 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Hamburg Ballett, John Neumeier, Glasmenagerie 3. November 2021