Foto: Kirche Zürich, Enge, von außen JLZ
Reformierte Kirche Zürich, 1. Januar 2022
Johann Sebastian Bach, Weihnachtsoratorium, IV. Kantate
von Jolanta Łada-Zielke
Auch wenn ich nicht gezielt nach Musik suche, findet sie mich und manchmal auf sehr überraschende Weise. Ich habe Silvester in der Schweiz verbracht und am Neujahrstag ging ich mit meinem Mann durch Enge, einen der Züricher Stadtteile, spazieren. Unterwegs gingen wir an einem Hügel mit einer imposanten Kirche im Neurenaissancestil vorbei. Eine hohe Treppe führte dorthin, aber wir mussten sie nicht erklimmen, um ein Transparent zu sehen, das ankündigte, dass hier in weniger als einer Stunde die IV. Kantate aus Johann Sebastian Bachs „Weihnachtsoratorium“ aufgeführt wird. Wir zögerten einen Moment, weitergehen oder hier bleiben? Schließlich gewann die Liebe zur Musik. Es gibt ein polnisches Sprichwort das heißt: „Wie das Neujahr beginnt, so wird das ganze Jahr“, also habe ich diesen Zufall als eine gute Prognose gesehen.Vor dem Kircheneingang trafen wir ein Gemeindemitglied und fragten nach dem Eintrittspreis. „Es gibt keine Eintrittskarten, denn das ist kein Konzert, sondern ein Musikgottesdienst“, erklärte der Mann. „Die ersten drei Kantaten aus dem Weihnachtsoratorium wurden hier am 25., 26. und 27. Dezember aufgeführt. Heute ist die Vierte dran, morgen die Fünfte und in einer Woche die Sechste.“
Bei der Organisation der dortigen Musikgottesdienste helfen die Freunde der Alten Musik und das Engemer Musikforum.
Da mein Chor dieses Jahr das „Weihnachtsoratorium“ nicht gesungen hat, war ich froh, wenigstens ein bisschen von dem Werk zu hören und vielleicht diskret mitsingen zu können. Leider traten die für die Chorpartien vorgesehenen Kantorei Enge und das örtliche Bach Ensemble nicht auf, weil bei einigen Mitgliedern die aktuelle Omikron-Variante nachgewiesen wurde. Also gab es weder „Fallt mit Danken, fallt mit Loben“, noch den Schlusschoral „Jesus richte mein Beginnen“; es wurden nur Rezitative, Arien und Duos gesungen. Dennoch war die kleine Besetzung des Chores dieser Situation gewachsen.
Während des Gottesdienstes sangen drei auf Barockmusik spezialisierte Solisten: die russische Sopranistin Anna Miklashewich, der französische Tenor Ivo Haun und der kolumbianische Bass Santiago Garzon-Arredondo. Ivo Hauns erster Einsatz als Evangelist war etwas unsicher, erst dann zeigte der Sänger seine ganze stimmliche Kunst. Der Bass und die Sopranistin waren sowohl von der gesanglichen als auch von der interpretatorischen Seite großartig. Bei der Aufführung der Arie „Flösst, mein Heiland“ begleitete Anna Miklashewich als Echo Katharina Schmidt, in deren erstes „Nein“ etwas Aufregung zu spüren war; meiner Meinung nach völlig unnötig, denn diese Sängerin hat sehr großes Potential und nimmt die hohen Töne mühelos auf. Andererseits kann man von Miklashewich und Garzon-Arredondo mit Sicherheit sagen, dass Barockmusik ihr Element ist. Selbst die schwierigsten Koloraturen sangen sie sehr genau und gleichzeitig mit Freiheit und Hingabe.
Vier Instrumentalisten des Capriccio Barockorchesters begleiteten die Sänger– zwei Violinen, ein Kontrabass und Basso continuo. Zur Aufführung der Echo-Arie gesellte sich den Sängerinnen eine Oboistin, die ein altes Instrument spielte. Zwar war das ein Gottesdienst, dessen Teilnehmer eher spirituelle als ästhetische Erlebnisse erwarteten, aber die Qualität einer selbst so fragmentarischen Aufführung des Bach Werks in kleiner Besetzung dürfte jeden Musikliebhaber zufriedenstellen, der an jenem Abend zufällig diese evangelisch-reformierte Kirche in Zürich-Enge besuchte.
Die Wahl des Termins dieses Musikgottesdienstes war absichtlich. In der IV. Kantate handelt es sich um die Offenbarung Jesu im Tempel, acht Tage nach seiner Geburt, wobei er beschnitten und benannt wurde. Dort taucht auch der Prophet Simeon auf. Alle biblischen und musikalischen Hintergründe dieses Ereignisses erklärte die Pfarrerin Gudrun Schlenk in ihrer Predigt. Sie griff auch das Thema „der Name als Markenzeichen“ nicht nur von Personen, sondern auch von namhaften Unternehmen, wie zum Beispiel Gucci und der Bedeutung des Namens im Leben der Menschen auf. Zum Schluss zitierte sie einen hoffnungsvollen Vers aus dem Propheten Jesaja: „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.“ In dem Moment erklangen in meinem Herz die letzten Töne von Bach Motette „Fürchte dich nicht“…
Möge diese spontane Teilnahme am Musikgottesdienst mit einem Fragment des „Weihnachtsoratoriums“ ein guter Anfang des neuen Jahres 2022 sein, in dem ich noch viele musikalische Überraschungen erleben darf.
Jolanta Łada-Zielke, 11. Januar 2022 für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Ladas Klassikwelt (c) erscheint jeden Montag.
Frau Lange hört zu (c) erscheint unregelmäßig.
Schweitzers Klassikwelt (c) erscheint jeden zweiten Dienstag.
Sommereggers Klassikwelt (c) erscheint jeden Mittwoch.
Pathys Stehplatz (c) erscheint jeden zweiten Donnerstag
Hauters Hauspost (c) erscheint unregelmäßig.
Daniels Antiklassiker (c) erscheint jeden Freitag.
Dr. Spelzhaus Spezial (c) erscheint unregelmäßig.
Ritterbands Klassikwelt (c) erscheint unregelmäßig.
Der Schlauberger (c) erscheint jeden Sonntag.
Jolanta Łada-Zielke, 50, kam in Krakau zur Welt, hat an der Jagiellonen-Universität Polnische Sprache und Literatur studiert und danach das Journalistik-Studium an der Päpstlichen Universität Krakau abgeschlossen. Gleichzeitig absolvierte sie ein Gesangsdiplom in der Musikoberschule Władysław Żeleński in Krakau. Als Journalistin war Jolanta zehn Jahre beim Akademischen Radiorundfunksender Krakau angestellt, arbeitete auch mit Radio RMF Classic, und Radio ART anlässlich der Bayreuther Festspiele zusammen. 2003 bekam sie ein Stipendium vom Goethe-Institut Krakau. Für ihre journalistische Arbeit wurde sie 2007 mit der Jubiläumsmedaille von 25 Jahren der Päpstlichen Universität ausgezeichnet. 2009 ist sie der Liebe wegen nach Deutschland gezogen, zunächst nach München, seit 2013 lebt sie in Hamburg, wo sie als freiberufliche Journalistin tätig ist. Ihre Artikel erscheinen in der polnischen Musikfachzeitschrift „Ruch Muzyczny“, in der Theaterzeitung „Didaskalia“, in der kulturellen Zeitschrift für Polen in Bayern und Baden-Württemberg „Moje Miasto“ sowie auf dem Online-Portal „Culture Avenue“ in den USA. Jolanta ist eine leidenschaftliche Chor-und Solo-Sängerin. Zu ihrem Repertoire gehören vor allem geistliche und künstlerische Lieder sowie Schlager aus den zwanziger und dreißiger Jahren. Sie ist seit 2019 Autorin für klassik-beigeistert.de.
J.S.BACH: WEIHNACHTSORATORIUM Kantaten I-III, St. Michaelis, 18. Dezember 2021