Riccardo Muti. Foto: Wiener Philharmoniker / Nagel ©
Salzburg, Großes Festspielhaus, 15. August 2022
Peter Tschaikowsky:
Symphonie Nr.6 op. 74 „Pathétique“
Franz Liszt:
Von der Wiege bis zum Grabe. Symphonische Dichtung Nr.13 nach einer Zeichnung des ungarischen Malers Mihály Zichy
Arrigo Boito:
„Prologo in cielo“ aus der Oper Mefistofele
Ildar Abdrazakov, Bass
Salzburger Festspiele und Theater Kinderchor (Choreinstudierung Wolfgang Götz)
Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor (Choreinstudierung Huw Rhys James)
Wiener Philharmoniker
Riccardo Muti, Dirigent
Der Maestro leitete die Wiener Philharmoniker in Salzburg
von Kirsten Liese
Ich muss zugeben, für ein Programm mit Liszt, Boito und nur Tschaikowskys „Pathétique“ als dem einzigen Stück, auf das ich mich eigentlich gefreut habe, würde ich normalerweise keine weite Reise machen. Aber Riccardo Muti ist so eine Klasse für sich, dass ich eine solche anstrengende Unternehmung immer wieder auf mich nehme. Auch wenn ich mich im Zug aus der Schweiz, wo ich gerade zwei Festivals besucht hatte, noch gefragt habe, ob das nicht doch zuviel wird.
Aber dann beginnt Tschaikowskis „Pathétique“, so atmosphärisch stark mit dem Einsatz der Kontrabässe, so knisternd leise, dass man sie nur erahnt, gefolgt von den leisen Seufzer-Motiven in den Fagotten und der Fortspinnung dieses Motivs in den Bratschen, dass jedwede Zweifel verflogen sind: Die Reise hat sich allein für diesen Tschaikowsky gelohnt, so sensationell habe ich keine Wiedergabe dieses Werks seit Celibidache gehört.
Natürlich wartet alles gespannt auf den Übergang zum Adagio im ersten Satz, wenn die berühmte sehnsuchtsvoll-leidenschaftliche Melodie in den Violinen anhebt: Da findet Muti wieder einmal genau das richtige Maß, kein Anflug von Sentimentalität oder Kitsch schleicht sich da ein, und doch spielen die Wiener Philharmoniker dieses Thema zutiefst beseelt und inniglich.
In dem Stil geht es weiter.
Der zweite Satz, Allegro con grazia, kommt herrlich beschwingt und mit der geforderten Grazilität mit dem Thema der Celli in Gang, und erfreulicherweise moderat im Tempo, so dass jedes Motiv, jede Überleitung, jedes Instrument sich im weit gefächerten Panorama bestens entfalten- und vom Ohr wahrgenommen werden kann.
Am meisten hängt mir immer noch der dritte Satz mit seinem ohrwurmartigen marschähnlichen Thema nach, dem Muti in seiner ganzen klanglichen Fülle so majestätisch Raum gibt. Da offenbart sich freilich auch die Exklusivität dieses Orchesters, insbesondere die der exponierten so makellosen, brillanten Hörner, Posaunen und Trompeten. Sie spielen so homogen wie ein Mann, lassen ihre Instrumente wie Gold erstrahlen. Und harmonieren trefflich mit den Holzbläsern, die ebenso ihre Soli mit großer Sensitivität erkunden.
Was mir an diesem Vormittag auch wieder einmal Freude macht, ist die so exakte Zeichensprache Mutis, der die Musik mit seinen Bewegungen plastisch in Bilder übersetzt. So ziemlich alles, was man mit zwei Händen, Ellenbogen und Armen machen kann, habe ich an diesem Vormittag gesehen: Wird die Musik schwelgerisch, beschreibt er mit seinen Armen Kreise oder zeichnet Achten in die Luft, wird sie kantiger, klappt er seinen Handflächen rauf und runter, steuert sie auf einen dramatischen Höhepunkt zu, ballt er die Faust. „Il Maestro forma la musica“, hat Muti einmal einen Konzertmeister zitiert, hier war diese Körpersprache in Vollendung zu erleben, ganz im Dienst des Komponisten. Affektierte Posen kommen dem Maestro sowieso nicht unter, nichts hasst er so sehr, als wenn ein Dirigent sich zu einem Entertainer degradiert. Kerzengerade steht Muti auf seinem Podium wie eine Eins.
Die ungewöhnliche Dramaturgie dieses Konzerts mit der Sinfonie am Anfang hatte freilich ihren tieferen Sinn: Der letzte wehmutsvolle Satz Tschaikowskys endet sehr leise und ohne finalen Jubel.
Oper dirigiert Muti bekanntlich weitgehend nur noch konzertant oder kaum noch in Salzburg wegen der miserablen Inszenierungen (der aktuelle „Ring“ in Bayreuth wäre mit ihm wohl undenkbar). Aber ein bisschen konzertante Oper durfte es doch sein. Mit dem Triumph der Himmlischen Heerscharen und Cherubim über den Teufel in Arrigo Boitos Prolog zu seinem Mefistofele ließ Muti am Ende die Sonne wieder aufgehen, jagte mit den lichten, imposanten Gesängen einer riesigen Chor-Phalanx den Satan (grandios: Ildar Abdrazakov) davon. Eine gewisse spirituelle Dimension im Kampf gegen das Böse in schwierigen Zeiten schwang unwillkürlich in diesem großformatigen Opus mit.
Kurz zuvor ereignete sich zum Erschrecken aller während Liszts sinfonischer Dichtung Von der Wiege bis zum Grabe noch ein Drama: Ein Mädchen aus dem Kinderchor flüchtete von der Bühne, gefolgt von dem Paukisten und noch einem anderen Musiker, die ihm zu Hilfe eilten. Das Aufsehen entging freilich auch Mutis Augen nicht. Nach den drei Sätzen von Liszt, die an diesem Vormittag, subtil in den farblichen Valeurs ausgelotet, ihren Reiz entfalteten, sah der Pultstar – so hörte ich – nach seinem Abgang hinter die Bühne sofort nach dem Rechten. Und gab den Musikern, aufs Podium zurückgekehrt, erleichtert Entwarnung, dass sich das Mädchen wohl erholt habe.
Auf frenetischen Beifall musste der italienische Stardirigent nicht bis zum Schluss warten, schon für seine geniale Tschaikowsky-Wiedergabe dankte das Publikum mit Bravorufen, die kein Ende nehmen wollten. Wie gut, dass ich die lange Reise ausschließlich für dieses Konzert gemacht habe. Es wird mir für immer in Erinnerung bleiben.
Kirsten Liese, 18. August 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Wiener Philharmoniker, Tschaikowsky – Liszt – Boito, Riccardo Muti, Salzburg, 14. August 2022
Wiener Philharmoniker, Riccardo Muti, Dirigent Musikverein Wien, Großer Saal, 23. Mai 2022