Matinee und öffentliche Probe von Wagners „Lohengrin“: Das Theater Lübeck präsentiert ein neues Format

Richard Wagner, Lohengrin, Matinee vor der Premiere  Theater Lübeck

Foto: Motiv auf Basis einer Illustration von santoelia shutterstock.com

Seit vielen Jahren erfreuen sich die sogenannten Kostproben im Lübecker Theater großer Beliebtheit. Bei diesen Veranstaltungen gibt es ein bis zwei Wochen vor der Premiere eine kostenlose Einführung in die Inszenierung, danach kann das Publikum an einer Szenenprobe teilhaben.

Theater Lübeck, 21. August 2022

Einführungsmatinee zu

Lohengrin
Romantische Oper von Richard Wagner
Premiere 4. September 2022

von Dr. Andreas Ströbl

Das experimentierfreudige Haus hat dieses Format jetzt erweitert, zumindest für ausgewählte Produktionen wie den seit Jahren langersehnten „Lohengrin“ unter der Regie von Anthony Pilavachi und der musikalischen Leitung von GMD Stefan Vladar.

Dieses „langersehnt“ darf auf zweierlei Weise verstanden werden, denn einerseits war die Aufführung dieser Oper wegen der Corona-Beschränkungen verschoben worden, andererseits hatte Pilavachi, der Regisseur des preisgekrönten „Rings“ am Lübecker Theater, nach einem Zerwürfnis mit der vorigen Leitung jahrelang nicht dort inszeniert. Das war ausgesprochen bedauerlich für diejenigen, die seine Arbeit zu Recht schätzen, denn der Mann ist ein echter Zauberer. Ja, so haben auch die Kinder Thomas Manns ihren Vater genannt und daher sei dieser kleine Querverweis in der Mann-Stadt Lübeck erlaubt.

Nun gab es am 21. August 2022 eine anderthalbstündige Matinee mit Regisseur und GMD sowie der Dramaturgin Judith Lebiez und dem Germanisten und Wagner-Kenner, Prof. Martin Schneider von der Uni Hamburg; eine ebensolange öffentliche Probe konnte am folgenden Tag besucht werden. Die Veranstaltung am Sonntagvormittag war auch für eingefleischte Kennerinnen und Kenner von Wagners romantischer Oper ausgesprochen bereichernd, denn was die vier auf dem Podium (selbstverständlich der Theaterbühne) in Diskussion und Einzelbeiträgen vorstellten, ging über eine bloße Einführung in das Werk und die aktuelle Interpretation hinaus.

Ausgesprochen bemerkenswert war übrigens Stefan Vladars Äußerung, dass, wenn ihm in seiner Lübecker Zeit eines wirklich wichtig gewesen sein sollte, dies sein wird, dass er Pilavachi zurück an jenes Haus geholt habe.

Vladar, der ja eigentlich vorrangig Pianist ist (die Lübecker kennen ihn vor allem als „ihren“ Dirigenten, der das Orchester der Hansestadt auf ein Spitzenniveau gebracht hat), eröffnete den Vormittag auf dem Flügel mit dem wundervollen Lohengrin-Vorspiel, das trotz der instrumentalen Reduktion die himmlischen Höhen, ja das Übersinnliche dieser Musik erahnen ließ. Judith Lebiez’ Aufgabe war hernach vor allem, die Handlung zusammenzufassen und auf die wesentlichen Aspekte zu konzentrieren.

Was diese Oper nun im eigentlichen Sinne romantisch macht, erläuterte Martin Schneider, wobei gerade der Übergangsstatus dieses Werks auch innerhalb Wagners eigenem Schaffen interessant ist: Hier vollzieht sich eine Wandlung von der Behandlung der traditionellen Rezitative in bezug auf die Arioso-Partien, indem die Übergänge nun fließender werden. Hochinteressant war der Verweis Vladars auf das Vorbild Mozarts, den die beiden jungen Sänger Gustavo Mordente Eda (Tenor aus dem Lübecker Opernstudio) und Jacob Scharfman (Bariton; er wird den Heerrufer singen) mit einem Beispiel aus der „Zauberflöte“ und aus dem „Lohengrin“ hör- und begreifbar machten. Beide sangen phantastisch und vor allem mit exzellentem Textverständnis – Eda gab später noch die „Gralserzählung“ und die hat man auch von manch wohlgeübtem Sänger an großen Häusern schon schlechter gehört.

Die dem „Lohengrin“ innewohnenden Dichotomien Tag – Nacht, Licht – Dunkelheit, Aufklärung – Romantik wurden durch die kenntnisreichen Ausführungen und gerade im Verweis auf die „Zauberflöte“ lebendig und so offenbar, dass man sich fragen konnte, weshalb einem diese Parallele nicht schon früher aufgefallen war.

Pilavachi erntete manche Lacher, als er darlegte, wie er als Nicht-Deutscher das so genuin deutsche Phänomen der Romantik empfindet und wie er unter anderem dröge Zugfahrten durch eine trübe Landschaft als Initialzündungen dieses großen und unscharfen Gebildes aus Sehnsucht, Natursuche, der Beschwörung des Unbewussten und Traumhaften sowie eines verklärten Mittelalters mit seiner Religiosität und all den Rittern, Undinen und später Schlafwandlerinnen wahrnimmt. Seine psychologischen Analysen der Charaktere Elsa, Lohengrin und Ortrud beleuchteten einen eher dunklen Bereich, den er eine „Nacht aus Emotionen“ und später eine „Nacht aus Katastrophen“ nannte. Die Spannung, die aus dem Konflikt zwischen den politischen Gegebenheiten und Erfordernissen einerseits und den Bedürfnissen und Ängsten des Individuums andererseits entstehen, eröffnet sich für ihn in der Figur Elsas, die in ihrer Hilflosigkeit nichts anderes tun kann, als sich jemandem anzuvertrauen, von dem sie nicht weiß, wer er ist und woher er kommt.

Den Aspekt der Gefahr, die Brabant aus dem Osten droht, nutzte Pilavachi für aktuelle Bezüge mit deutlicher Putin- und Netrebko-Kritik und verwies darauf, dass ebenso, wie Elsa für ihn eine gefolterte und vergewaltigte Frau ist, die ganze Oper durch die Nazis vergewaltigt und ihrer Unschuld beraubt wurde. Man darf gespannt sein, was Pilavachi bei der Premiere am 4. September aus dem Hut zaubern wird.

Psychologisch näherte sich auch Stefan Vladar dem Werk und seiner Genese, indem er Elsas ersten Satz, „Mein armer Bruder!“ auf Wagner selbst bezog. Egomanie ist ja etwas, was man dem „Meister“ mit Fug und Recht vorwerfen darf, unter anderem. Autobiographische Bezüge und vor allem Projektionen und Wunschvorstellungen wie der nach der erlösenden Frau sind schließlich Zentralthema im „Holländer“ und im „Lohengrin“, in anderer Weise umgesetzt im „Tannhäuser“. Dazu gesellt sich der Begriff des Künstlers, der die Welt verändern will, ansonsten hätte er auf dieser nichts zu schaffen, was Pilavachi mit einem leidenschaftlichen Plädoyer für eine politisch verantwortungsvolle Kunst in die Gegenwart rückte.

Martin Schneiders Hinweis auf eine jüdische Identifikation mit der Figur des Lohengrin im New York des frühen 20. Jahrhunderts brachte eine nahezu unbekannte Facette in der Wagner-Rezeption, gerade dort, wo man sie am wenigsten vermutet hätte.

In der Tat ist auch bei Wagner nicht alles so, wie es scheint; eine der großen Aufgaben moderner Inszenierungen besteht immer noch darin, Wagners Werk der rechten Rezeption zu entreißen. Leider hat er sie selbst in dieses Fahrwasser bugsiert, wenigstens aber hat er reichlich für einen möglichen Missbrauch getan oder nicht vermieden.

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Am Abend des folgenden Tages nun die öffentliche Probe – wer noch nie aktiv auf der Bühne gestanden oder im Orchestergraben gesessen bzw. als Dirigent, Regisseur oder Dramaturg an einer großen Produktion mitgewirkt hat, kann überhaupt nicht ermessen, was für eine Arbeit es bedeutet, all das unter einen organisatorischen und künstlerischen Hut zu bringen, was so ein Gesamtkunstwerk ausmacht. Da ist hinterher leicht kritisieren, vor allem wenn auf den letzten Metern mit solchen Katastrophen wie einer wegen Long-Covid ausgefallenen Hauptrolle zu kämpfen ist. Wer am 4. September in Lübeck die Elsa singt, ist noch nicht heraus – das erfuhr das Publikum am Montagabend.

Insgesamt entstand der Eindruck einer sehr gut abgestimmten und ausgesprochen harmonischen Zusammenarbeit von GMD, Regisseur, Dramaturgin und all denen, die so leicht vergessen werden – dem Korrepetitor, der Souffleuse und den vielen Helfern im Hintergrund, die nie in den Genuss einer Applausdusche kommen und ohne die in keinem Theater, Opernhaus oder Konzertsaal irgend etwas rundläuft. An dieser Stelle ein herzliches Bravi! an diejenigen, die bescheiden und geflissentlich ihren essentiellen und meist nicht genügend gewürdigten Dienst tun.

Über die Inszenierung kann und soll an dieser Stelle noch nichts Näheres gesagt werden, aber es wird mit Brechungen, ja Zerbrochenem gespielt, im Bühnenbild und in der Behandlung der psychischen Disposition der Charaktere. In der Probe wurde bereits deutlich, wie detailliert hier an der Personenregie und der Übereinstimmung von Solisten, Chor und Orchester gearbeitet wird.

Faszinierend gerade an diesen Proben mit völlig anderer Beleuchtung von Ton und Text ist auch für Kenner der Musik, so wie sie „fertig“ klingt, welche bislang ungehörten Details plötzlich zutage treten und wie man gerade an diesen Feinheiten feilen muss, um eine stimmige, eigene und möglicherweise völlig neue Interpretation dieser Werke zu erlangen.

Dahin hatte die Matinee auf anderer Ebene verwiesen: Auch die Schönheit dieser Musik ist nur das, was man erst einmal oberflächlich hört. Dahinter verbirgt sich etwas anderes, Tieferes, Wahres oder zumindest Verdecktes. Vladar zitiert gerne Sergiu Celibidaches Ausspruch, dass Schönheit an der Musik nur der Köder sei, denn es gehe um etwas völlig anderes. Wie eine Bohrmuschel durch harten Stein, so Vladar, müsse man sich durch diese Schicht der Schönheit bohren, um an die eigentliche Substanz und Aussage zu gelangen. Man darf mit Spannung erwarten, was dieser Lohengrin hinter den Planken und Felskrusten offenbaren wird.

Beide Veranstaltungen waren ausnehmend gut besucht und man kann nur hoffen, dass dieses neue Format beibehalten wird. So etwas ist weitab von blanker Abonnement-Oberflächlichkeit und zeigt, wie lebendig in Lübeck Kultur auf hohem Niveau produziert und vermittelt wird.

Dr. Andreas Ströbl, 23. August 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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Theater Lübeck“

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